Vor einigen Wochen verbrachten wir einen Freitagabend mit Freunden in einem Restaurant. Als wir zurückkamen, machten wir unseren neuen Flachfernseher an – er ist von Sony und hat die Eigentümlichkeit, dass man eine Minute warten muss, bevor man nach dem Einschalten das Programm wechseln kann. – Aus irgendeinem Grunde lief da der Südwestfunk, genauer gesagt, ein Beitrag über den Landtagswahlkampf, es ging um die AfD. Erwähnt wurde, eher am Rande, ein Funktionär mit Namen Wolfgang Gedeon, der in Konstanz aktiv ist.
„Hey“, sagte meine Mitbewohnerin. „Den kenn‘ ich aus Gelsenkirchen! Der war doch bei der KPD! – Wie der wohl heute aussieht?“
Gewöhnlich sind die Chancen, per Internet zu ermitteln, wie eine seit Jahrzehnten verschollene Jugendbekanntschaft heutzutage aussieht, nicht sonderlich groß. Da der Mann aber immerhin im Fernsehen erwähnt worden war, probierte ich es. – Ich stieß auf ein abgehärmtes Gesicht („Ah, so sieht der heute aus!“), und auf einen Wikipedia-Artikel, der mich darüber belehrte, dass Wolfgang Gedeon „ein deutscher Arzt, Buchautor und Politiker der Alternative für Deutschland“ sei.
Nun ja, dachte ich. Da könnte ich ja mal schauen, was der Mann so schreibt – vielleicht lässt sich daraus ja entnehmen, was er heute denkt. Und da ich nur durch die Gelsenkirchener Erinnerung meiner Mitbewohnerin auf den Namen gestoßen wurde, handelte es sich sozusagen um eine Zufallsstichprobe, was die AfD betrifft. – Ein zufälliger Griff in den Brunnen beweist natürlich nichts, es ist möglich, dass man den einzigen Frosch erwischt, den es dort unten gab, während der Brunnen in Wahrheit voller Molche ist. – Wahrscheinlicher ist aber, dass man einen Molch in der Hand hat, also einen Durchschnittsvertreter.
Wolfgang Gedeon veröffentlichte unter dem Namen „W. G. Meister“ 2009 ein dreibändiges Werk mit dem Titel „CHRISTLICH-EUROPÄISCHE LEITKULTUR. Die Herausforderung Europas durch Säkularismus, Zionismus und Islam“ – Auf der Webseite des Autors findet man eine wortreiche „Quintessenz“, und in dieser findet sich folgender Absatz:
„Der Vatikan spricht zu Recht von einer „Verschwörung“, wobei es sich nicht primär um eine gegen den Papst, sondern um eine gegen die gesamte katholischen Kirche handelt: Erst die Pius-Brüder, dann die ganze katholische Kirche und schließlich das gesamte Christentum niedermachen und ausschalten: Das ist die freimaurerisch-zionistische Strategie, wie wir schon in den so sehr angefeindeten Protokollen der Weisen von Zion nachlesen können: „Mit der Presse in der Hand können wir verkehren Recht in Unrecht, Schmach in Ehre. Wir können erschüttern die Throne und trennen die Familien. Wir können untergraben den Glauben an alles, was unsere Feinde bislang hochgehalten …..““
Meine Zufallsstichprobe führte mich also zu einem gewendeten Linksradikalen – er sitzt seit der Landtagswahl für die AfD im Landtag – der jetzt an die freimaurerisch-zionistische Weltverschwörung glaubt, über deren Grundzüge er sich aus den „Protokollen der Weisen von Zion“ informiert hat. – Ich denke, wer diesen Beitrag hier liest, weiß, was die „Protokolle“ sind: Eine fatal einflussreiche antisemitische Fälschung, die im russischen Zarenreich produziert wurde. – Was Hitlers Verhältnis zu dem Machwerk betrifft, sagt Wikipedia:
„Hitler äußerte sich von ihrer „absoluten Echtheit“ überzeugt und meinte, dass sie das immer gleiche Wesen der Juden zeigen würden: „Es bleibt also den modernen Völkern nichts anderes übrig, als die Juden auszurotten.“[„
Auf weitere Untersuchungen meiner Stichprobe verzichtete ich – das gute Essen des Abends sollte an seinem Ort bleiben.