Fatale Masken

Das bekannteste Ausstellungsstück des Römisch-Germanischen Museums in Köln ist die eiserne Maske eines römischen Reiteroffiziers. Nach den wirklichen Konturen seines Gesichtes geschmiedet sollte sie es, als Ergänzung zum Helm, vor Verletzungen durch feindliche Waffen schützen. – Davon abgesehen schmückte sie ihren Träger und demonstrierte seinen Reichtum und / oder Narzissmus, denn auf ihr saß noch eine Übermaske aus Gold.

Der Tragekomfort war mit Sicherheit unterirdisch. Das Gesicht dürfte sie – etwa vor geschleuderten Steinen oder Bleiklümpchen – geschützt haben. Dennoch ist davon auszugehen, dass der Besitzer sein Leben mit der Maske vor dem Gesicht verlor, nämlich in der Schlacht am Teutoburger Wald – durch Feindeinwirkung auf andere Körperteile. Die Maske könnte dabei eine fatale Rolle gespielt haben: Ich stelle mir vor, dass der Mann mit dem Goldgesicht von einem seitlich aus dem Gebüsch springenden Gegner überrascht wurde, da die Augenschlitze sein Blickfeld beschränkten. Wenn der Gegner ein cleverer war, hatte er das bei seinem Angriff eingeplant.

Jedenfalls zog ein germanischer Krieger dem Gefallenen oder Verwundeten die Maske ab, brachte das Goldblech auf die Seite und warf das Eisenteil weg: Die Spezialanfertigung des Römers passte nicht auf seine durch Metmissbrauch dick gewordene Nase oder sie quetschte den blonden Cheruskerbart. Womöglich hatte er – in der heiteren Stimmung, die Barbaren befällt, wenn sie ein erfolgreiches Massaker absolviert haben – das Ding mal probeweise vors Gesicht gehalten und seine Kumpels hatten ihn ausgelacht.

Sechs Jahre nach diesen gemutmaßten Ereignissen erreichte eine römische Strafexpedition das Schlachtfeld. – Ich hoffe für den Besitzer der fatalen Maske, dass er direkt in die römische Unterwelt gelangt war und nicht zu den Gefangenen aus dem höheren Legionsmanagement gehörte, die als Opfer für Wotan endeten, dem man wohl mit einfachen Legionären nicht kommen durfte:

„Mitten in dem freien Feld lagen die bleichenden Gebeine zerstreut oder in Haufen, je nachdem die Leute geflohen waren oder Widerstand geleistet hatten. Dabei lagen Bruchstücke von Waffen und Pferdegerippe, zugleich fanden sich an Baumstämme angenagelte Köpfe. In den benachbarten Hainen standen die Altäre der Barbaren, an denen sie die Tribunen und die Centurionen der ersten Rangstufe geschlachtet hatten.“ (Tacitus, Annalen, Buch 1)

Gehen wir von obiger Spekulation aus, könnte die in Köln gezeigte Maske ihrem Träger also das Leben gekostet haben. – Die 2012 Jahre jüngere Fatalität von Corona-Masken ist eine andere. Ihre Lebensgefährlichkeit, etwa für Kinder, ist nur eine Lüge, die von Leuten mit üblen politischen Absichten verbreitet wird.

Lebensgefährlich ist es, keine Maske zu tragen, z. B. wenn man mit einem Infizierten unter derselben Zimmerdecke hockt und zu einer Risikogruppe gehört. – Fatal sind Coronamasken lediglich für Brillenträger, weil sie die Gläser beschlagen lassen. Ich habe ein wenig experimentiert, da ich eine Lesebrille benutze (z. B., wenn ich in einem ziegeldicken Reclamheft ein Tacitus-Zitat suche):

Sowohl bei OP- als auch bei FFP2-Masken beschlägt die Brille unmittelbar nach dem Aufsetzen, und zwar gnadenlos. Es gibt zwei Faktoren, die entscheiden, wie stark dieser Effekt ausfällt: Der eine ist die allgemeine Luftfeuchtigkeit, der andere ist der Grad, in dem die Maske am oberen Rand abschließt. Anders als das Wetter kann ich letzteren beeinflussen, indem ich den Nasenbügel fester an die Nase drücke. Ganz beseitigen kann ich den Effekt auf diese Weise nicht, wohl aber abschwächen und rhythmisieren: Beim Ausatmen wird es milchig, beim Einatmen klar.

Ich probierte auch, über die OP-Maske noch eine zusätzliche Stoffmaske zu ziehen: Das empfiehlt irgendwer im Internet als Hausmittel gegen die Brillenfeuchtigkeit. – Leider ist es wie viele Hausmittel billig und wirkungslos. Das Verfahren hat aber einen anderen Mehrwert: Es erlaubt es nämlich, die zahlreichen gemusterten oder mit Bildmotiven versehenen Stoffmasken weiterzuverwenden, die sich im ersten Pandemie-Jahr angesammelt haben – u. a. dank nähbegeisterter Freunde oder Verwandter. Man muss aber darauf achten, dass die OP-Maske unter der Stoffmaske nicht spurlos verschwindet. Sie muss sichtbar bleiben, sonst riskiert man Anschisse durch Ordnungsamts-Mitarbeiter oder Busfahrer, die ein Ventil für schlechtbezahlte Übellaunigkeit suchen.

Zweibeinige Fledermäuse – rasiert sie!

Als Zivildienstleistender in den 80ger Jahren betreute ich eine alte, allein wohnende Dame. Ich kaufte für sie ein und unterhielt mich mit ihr, denn sie war einsam. Sie stammte aus Danzig, gehörte einem Vertriebenenbund an und hielt – wegen seiner unrein kaschubischen Abstammung – wenig von Günter Grass, dem einzigen Danziger, von dem ich wußte.

Die alte Dame war nett, ich kam gut mit ihr aus. Sie hatte aber neben Alter und Alleinsein noch ein weiteres Problem, nämlich eine Alterspsychose. Schizophrenie tritt viel häufiger bei jungen Leuten auf, einer meiner Jugendbekannten entwickelte zu jener Zeit eine: Er erkannte sich als den Messias der Juden und später als den Herrgott selbst. Dass die Krankheit auch im Seniorenalter auftreten kann, erfuhr ich nun.

Natürlich wußte die Danzigerin nicht, dass eine Psychose ihr Problem ist. Sie glaubte, ihr Problem sei eine Bande jugendlicher Drogendealer, die sich auf ihrem Dachboden versteckte (so gut, dass niemand eine Spur von ihnen entdeckte) und sich vorwiegend damit beschäftigte, sie zu schikanieren.

Eines Tages etwa beklagte sie sich bei mir, dass die Verbrecher den Empfang ihres Fernsehers (damals natürlich ein Röhrenfernseher) störten. – In der Tat: Die Mattscheibe zeigte nur Bilder, die weiß durchrauscht waren. Man kriegte Kopfschmerzen davon. – Überzeugte mich dieses Phänomen von der Existenz der Drogenbande, an der ich vorsichtige Zweifel angemeldet hatte?

Sieht man etwas Merkwürdiges, sollte man nach seiner Ursache fragen. Die Ursache muss etwas sein, was die fragliche Wirkung produziert und es ließ sich nicht leugnen: WENN auf dem Dachboden eine Bande Drogendealer hockte, die z. B. mit einem Störsender hantierten, konnte das Ergebnis gut jenes weiße Rauschen sein, das jetzt den Bildschirm füllte. – Natürlich glaubte ich immer noch nicht an die Dachboden-Gangster, obwohl ich (im Sinne der alten Dame) den Beweis für ihre Umtriebe unmittelbar vor Augen hatte.

Der Grund dafür, dass ich es nicht tat, war ein Prinzip, das ich damals dem Namen nach nicht kannte, dem ich aber im Alltag – wie die meisten Menschen – unbewußt folgte. Es ist als „Occams Rasiermesser“ bekannt. Wilhelm von Occam war ein mittelalterlicher Philosoph aus England, er ist berühmt als Vorbild für den von Sean Connery gespielten William von Baskerville im „Namen der Rose“ . Occam war ein hochintelligenter Philosoph, geriet aber mit dem Ende des Mittelalters in Vergessenheit – aus neuzeitlicher Arroganz und nicht aus eigener Schuld.

Sein Prinzip wird als „Rasiermesser“ bezeichnet, weil seine Funktion darin besteht, unbrauchbare Theorien zu entfernen, so wie ein Rasiermesser die Barthaare entfernt. Brauchbare Theorien läßt es (wie der Rasierer Nase und Ohren) in Frieden. – Unbrauchbar sind Theorien, wenn sie viele zusätzliche Annahmen nötig machen, die nicht bewiesen sind. Das ist relativ zu verstehen, es setzt voraus, dass es alternative Theorien gibt, die dasselbe erklären, aber mit Annahmen sparsamer sind.

Anstelle von „Theorie“ kann man auch von „Erklärung“ sprechen. Die Erklärung des gestörten Empfangs, die von der alten Dame vorgeschlagen wurde, setzte eine Menge Dinge voraus, die nicht auf der Hand lagen. Dass es jugendliche Drogenbanden tatsächlich gibt, war noch eine Annahme, die man akzeptieren konnte. Dass eine diese Banden aber – unsichtbar – den Dachboden einer alten Dame bezieht, um diese Dame zu schikanieren, klingt weniger akzeptabel. Es setzt Annahmen über die Motivation und die Fähigkeiten solcher Leute voraus, die wenig plausibel sind.

Aber wir hatten ja gesagt, dass Occams Prinzip relativ gemeint ist. – Was soviel heißt wie: Die Theorie der Danzigerin fällt dem Rasiermesser nur dann zum Opfer, wenn es andere, einfachere Erklärungen gibt, die weniger abwegige Annahmen machen. – Ich entdeckte eine solche Theorie persönlich, und sie stellte sich nach etwas Herumgemurxe als wahr heraus: Ich vermutete, dass das Antennenkabel eventuell nicht richtig in der Buchse am Fernseher steckte. – Schuld war wohl eine Putzfrau, die hinter dem Gerät die Spinnweben entfernt hatte.

Obwohl der Fernseher wieder sein normales Bild zeigte, gelang es mir nicht hundertprozentig, seine Besitzerin von meiner Erklärung zu überzeugen. Anders als bei meinem Vorgänger im Zivildienst gelangte sie in meinem Fall nicht zu der Schlussfolgerung, dass ich selber Teil der Bande sein müsse (ich glaube, sie mochte mich, was ihre Urteilskraft bestach). Sie bezweifelte lediglich, dass mein Gefummel den Empfang wiederhergestellt habe und vermutete, dass uns die Dealer belauscht und im richtigen Moment – um uns in die Irre zu führen – das Störsignal abgestellt hätten.

Occams Rasiermesser – ob bewußt oder unbewußt verwendet – hilft der Menschheit seit eh und je, Irre von geistig Normalen zu unterscheiden, nämlich anhand der von ihnen geäußerten Erklärungen. Es kann uns auch dabei helfen, Verschwörungstheorien zu identifizieren: Wer die Corona-Beschränkungen durch eine Geheimorganisation erklärt, die einige Millionen Menschen in allen Ländern der Welt zu ihren Mitgliedern zählt und deren Ziel es ist, durch eine vorgespiegelte Pandemie eine Herrschaft der Kinderschänder (und/oder Kommunisten und/oder Juden) herbeizuführen, benötigt dafür weit mehr unbewiesene Annahmen als meine arme, schizophrene Westpreussin mit ihrer Erklärung des gestörten TV-Empfangs. – Doch der Vergleich hinkt.

Verschwörungstheoretiker sind nicht verrückt – egal, wie verrückt ihre Theorien sind – denn sie sind Mehrzahl. Ein einzelner Mensch wäre es, wenn er völlig isoliert die eben genannte Verschwörungstheorie glauben und äußern würde. – Denn während der Einzelne im Alltag sich gewöhnlich nach Occam richtet, verschwindet dieser gesunde Menschenverstand so spurlos wie die imaginierten Dealer, wenn es sich um die Ansichten ganzer Gruppen handelt. – Die Religionen haben es vorgemacht. Schizophrene Wahnsysteme könnte man häufig auch als „Privatreligionen“ bezeichnen.

Ein wenig streitsüchtiger Leser könnte nun im Sinne des alten Fritz darauf bestehen, dass doch jeder auf seine Weise selig werden soll, d. h. dass es doch wurscht ist und einfach toleriert werden muss, welchen wie auch immer bekloppten Theorien einer anhängt. – Es ist nicht wurscht. Von den Theorien, an die ich glaube, hängt nämlich ab, was ich tue. Hätte ich an die Drogendealer geglaubt, wäre das Antennenkabel nicht justiert worden und die alte Dame hätte weiterhin auf die Tagesschau verzichten müssen. Und wer die Corona-Verschwörung für eine Tatsache hält, setzt keine Maske auf und steckt seine Oma (oder mich) an.

Leider muss ich sagen, dass meine damalige Klientin nicht nur an die Drogenhändler auf dem Dachboden glaubte. Es begegneten ihr auch – gelegentlich – menschenähnliche Fledermäuse auf zwei Beinen, die aus dem Abfluss ihrer Spüle kletterten. Sie erwähnte es, machte aber kein Aufhebens darum, denn die Wesen waren hübsch und freundlich. – Schade, dass auch ihre Existenz dem Rasiermesser zum Opfer fallen muss.

Barcelona, oder: Gaudi und die Stunksitzung

„Zum ersten Mal, seit ich nach Barcelona gekommen war, sah ich mir die Kathedrale an. Es war eine moderne Kathedrale, aber gleichzeitig eines der häßlichsten Gebäude der Welt. […] Ich bin der Ansicht, daß die Anarchisten schlechten Geschmack bewiesen, als sie die Kirche nicht in die Luft sprengten, solange sie die Gelegenheit hatten, obwohl sie ein rot-schwarzes Banner zwischen die Türme hängten.“

George Orwell, „Mein Katalonien“

Wir flogen Ende Dezember 2019 nach Barcelona, als Corona zwar schon sein Vermehrungsgeschäft betrieb (das einzige Geschäft, das Viren – in Ermangelung eines Stoffwechsels – betreiben können), die Welt aber noch nichts davon wußte. Geimpft waren wir dennoch, nämlich mit Berichten über eine mörderische Kleinkriminalität („Barcelona -Stadt der Diebe“) und diversen guten Ratschlägen, wie man ihr nicht zum Opfer fällt, was uns dazu brachte, in jedem Passanten, der einen gewissen Mindestabstand zu unseren in Parks und Strassen flanierenden Figuren unterschritt, einen Pickpocket zu vermuten. – Tatsächlich geschah uns nichts Böses. Weder wurden wir beklaut, noch betrogen, noch bemerkten wir Diebstähle oder Verdächtiges in unserer Umgebung. Barcelona mutete so sicher an wie Düsseldorf, von wo aus wir aufgebrochen waren. Und die Erkältungssymptome, die mich zwei Tage lang nervten, durfte ich in aller Unschuld für Symptome einer Erkältung halten. – Es war eine schöne Zeit.

Wir hatten gutes Wetter, was für Barcelona im Januar keine Selbstverständlichkeit ist, und auf den Straßen und vor den typisch spanischen Balkongittern verblassten in der Wintersonne die Zeichen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, Fahne und gelbe Schleife. – Wie Düsseldorf wird auch Barcelona von kreischenden grünen Sittichen bewohnt, im Parc de la Ciutadella sitzen sie auf den Rasenflächen in der Nähe von Plastiksonnenbrillen feilbietenden Afrikanern und haben wenig Scheu. – Wenn keine Saison ist, eignet sich die Stadt für Spaziergänge und einen Strand gibt es auch. Wir hielten uns einen Tag dort auf und ich las meiner Reisebegleiterin im Angesicht des Meeres aus Carmen Laforets Roman „Nada“ vor, der in Barcelona spielt. – Ich kann dieses Buch sehr empfehlen. – Carlos Ruiz Zavons „Der Schatten des Windes“ , das wir danach lasen und das auch in Barcelona spielt, sollte man vermeiden.

Wer vorhat, aus touristischen Gründen nach Barcelona zu fahren, sollte vorher überprüfen, ob er die Architektur Antoni Gaudis mag. Sie ist das Sehenswürdigste in dieser Stadt, und wer beim Anblick von Fotos der „Sagrada Familia“ ähnliche Empfindungen hat, wie sie den Spanienkämpfer George Orwell anfielen, würde besser woanders hinfahren. – Gaudis Kunst zählt zum Jugendstil und greift in spätere Epochen aus, ihre wichtigsten Beispiele sind neben genannter Monsterkirche (die übrigens nicht die „Kathedrale“ von Barcelona ist, eine solche – gotisch – gibt es auch noch) ein Gartenpark und einige Häuser. „Casa Milà“ , auch als „La Pedrera“ bezeichnet, ist das eindrucksvollste, es sieht aus, als würde es von Außerirdischen bewohnt, während die „Sagrada Familia“ mit ihrem durch Glasfenster mit Buntlicht durchflutetem Inneren ein Geschmäckle nach christlichem Kitsch hat. – Antoni Gaudi war nämlich nicht nur ein künstlerischer Visionär, sondern auch ein kirchenfrommer Katholik – so fromm, dass der Heilige Stuhl jetzt seine Seligsprechung betreibt.

Bekanntlich blickt Spanien auf ein berüchtigtes katholisches Mittelalter zurück, mit Großinquisitoren und Judenvertreibungen (und der entsprechenden Sexualmoral). Ein bisschen Luft davon konnten wir atmen, als wir am letzten Tag zum Montserrat fuhren. Dieser Berg erhebt sich als geologische Kuriosität etwa 40 Kilometer von der Stadt entfernt aus einer welligen Ebene, man kann mit der S-Bahn von der Placa d’Espagna bis zu seinen Fuß fahren und sich von Zahnradbahnen in die Höhe gondeln lassen. Seit dem 11. Jahrhundert lebten dort Mönche in Klöstern und Einsiedeleien. Während man auf dem Dach von Gaudis „La Pedrera“ unwillkürlich damit rechnet, dass hinter den Schornsteinen die Aliens von Tralfamador lauern, erwartet man auf den Bergpfaden des Montserrat, dass man hinter einer nebligen Biegung auf Ritter zu Pferde stößt, mit spanischen Eisenhüten auf den Köpfen, oder auf murmelnde Kuttenmönche, die im Kreis um einen rauchenden Scheiterhaufen stehen … der Berg ist sehr romantisch. Wir sammelten wilden Thymian.

Das Mittelalter wirkte in Spanien noch lange nach, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielte die Kirche das Gegenteil einer sozial fortschrittlichen Rolle, indem sie konsequent die Interessen von Adel, Großgrundbesitz und Fabrikherren verfocht. Das muss man als Barcelona-Besucher wissen, wenn man etwa bei der Führung durch Santa Maria del Mar auf die verrusste Decke hingewiesen wird, die daran erinnert, dass dieses Glanzstück katalanischer Gotik 1936 durch Feuer zum Einsturz gebracht werden sollte – das Feuer brannte tagelang, wurde aber mit den Qualitäten der mittelalterlichen Bausubstanz nicht fertig. „Welche Barbaren zerstören denn im 20. Jahrhundert eine mittelalterliche Basilika?“ fragt sich der naive Tourist. – Nun, für die anarchistischen Arbeiter, die in Barcelona die Gotteshäuser brennen ließen, handelte es sich nicht – wie für uns – um „Baudenkmäler“ aus einer toten, romantischen Zeit, sondern um Symbole einer noch ganz lebendigen, finsteren Macht, die zusammen mit den faschistischen Militärs ihre Knechtung bezweckte, bzw. verlängern wollte. – In demselben Sinne, in dem auch die umstrittenen Statuen der konföderierten Generäle in den Südstaaten der USA noch nicht einfach Denkmäler eines vergangenen Krieges sind …

Während anderswo in Europa die radikalen Arbeiter den Ideen Karl Marx‘ folgten, gehörten sie in Spanien 1936 mehrheitlich der anarchistischen Bewegung an. Sympathisch am Anarchismus ist das Freiwilligkeitsprinzip und die Feindschaft gegenüber allen Hierarchien. Beides sorgte dafür, dass er in den deutschen wilden Jahren nach 68 mehr Reiz für die aufmüpfige Jugend hatte, als der streng hierarchische und preussische Pflichttugenden schätzende Kommunismus. „Keine Macht für niemand!“ sang Rio Reiser, hätte er „Alle Macht der Partei!“ gesungen, wäre kein Oberschüler auf die Idee gekommen, den Songtitel an alle Wände zu sprühen.

Anarchisten sind relativ wenig gefährlich: Sie würden niemals einen totalitären Zwangsstaat errichten, erstens weil er das Gegenteil ihrer Prinzipien verkörpert und zweitens, weil sie mit ihren Prinzipien überhaupt nichts errichten können. Für die revolutionäre Praxis ist es nämlich hinderlich, wenn jeder kommen und gehen kann, wann er will, und man Führung bestenfalls provisorisch akzeptiert, wenn überhaupt. – Aus diesem Grunde gerieten die spanischen Anarchisten im Bürgerkrieg dann auch sehr schnell ins Hintertreffen gegenüber ihren kommunistischen Mitstreitern, die immerhin in der Lage waren, den Krieg gegen Franco professionell zu führen, auch wenn sie ihn am Ende verloren.

Den Bildausschnitt fand ich in einem Zeitungsblatt von 1936, das ich an unserem letzten Abend an einem Flohmarktstand auf der Placa de Catalunya erstand. Er zeigt einen Milizionär aus der „Kolonne Durruti“. – Durruti war ein anarchistischer Führer, spielte zu Beginn des Krieges eine prominente Rolle als Kriegsheld und erschoss sich später aus Versehen (wirklich aus Versehen) mit seinem eigenen Gewehr, was einem Kommunisten nicht passiert wäre. – Worauf es mir hier ankommt, ist aber nicht Durruti, sondern die Mütze des dünnbeinigen Rauchers, der (freiwillig) unter seinem Befehl stand. Man erkennt, dass sie nicht einheitlich gefärbt ist: Die linke Hälfte muss man sich rot vorstellen und die rechte schwarz: Rot und Schwarz sind die anarchistischen Farben. Auf Fahnen werden sie diagonal abgeteilt – wie auf dem Logo der Kölner Stunksitzung, das in Remineszenz an die deutsche „Anarcho-Szene“ entworfen wurde und somit tatsächlich auf das rot-schwarze Banner verweist, das von den Anarchisten 1936 u. a. zwischen die Türme der „Sagrada Familia“ gehängt wurde. Nachdem man auf ihre Sprengung aus ideologischen oder Geschmacksgründen verzichtet hatte. – Antoni Gaudi erlebte den revolutionären Karneval in Barcelona übrigens nicht mehr, er war 1926 unter eine Straßenbahn geraten. Weil der berühmte Künstler eine schäbige Jacke trug, hatte man ihn für einen armen Mann gehalten und medizinisch nicht versorgt. Der für seinen Kirchenbau zuständige Geistliche, ein Freund Gaudis, wurde von den Anarchisten erschlagen. – Die nicht im Krieg gefallenen Anarchisten wiederum verschollen in den Foltergefängnissen Francos, wenn nicht schon in denen ihrer kommunistischen „Freunde“, und die „Sagrada Familia“ ist immer noch nicht fertiggebaut.

Tauben und Gras

In Düsseldorf Mitte gibt es eine Grüninsel, als Kuchenviertel-Segment füllt sie das Eck zwischen zwei rechtwinklig aneinanderstoßenden Hauswänden. Schäbiges, löwenzahnverseuchtes Gras und zwei Haselnussbäume bilden ihre florale Ausstattung, ein dritter, von den Dürresommern der letzten Jahre umgebracht, ist bereits gefällt.

Menschen nutzen die Grüninsel nicht, sieht man von einem Alten mit schleppendem Schritt ab, der in der passenden Jahreszeit herabgefallene Nussbüschel aufliest, und von Dunkelmännern, die dort faulende Matratzen, Möbel und sonstigen „wilden“ Müll ablagern. – Die vielen Individuen, die sich dennoch täglich für mehrere Stunden auf dem Rasen ergehen, sind nicht aus Evas Stamm, sondern aus dem Ei geschlüpft. – Was vielleicht in Nestern geschah, die von den Eltern in den Betonnischen einer Unterführung schlampig ausgeführt und nie gereinigt wurden – wofür Tauben bekannt sind.

Tauben gibt es unterschiedliche: Ich meine weder die fetten, zu lautstarker Schreckhaftigkeit neigenden Ringeltauben, noch die niedlichen Türkentäubchen. Ich rede von banalen Haus- oder Stadttauben, im Regelfall an ihrem grau bis schwarz gefärbten Gefieder erkennbar, das allerdings bei manchen Exemplaren weiß bekleckst ist – genetische Überreste eingekreuzter Artgenossen vornehmerer Rasse. – Bekannt ist auch der Leuchteffekt, den dieses Gefieder am Hals zeigt, dort schimmert ein Regenbogen und erinnert an das bescheidene Lichtwunder, das sich auf geschnittenem Schinken abspielt und bei bei den Anhängern der feineren Küche trotz seiner Unbedenklichkeit Misstrauen erregt.

Anders als Menschen kann man Tieren bekanntlich nichts vorwerfen, weder ihr Verhalten noch ihr Aussehen. Trotzdem pflegt man gegenüber Tierarten Sympathien und Antipathien zu hegen. – Ich persönlich lehne z. B. Kegelrobben ab, weil sie a) brutal hässlich sind und b) dunkeläugige Seehunde und sogar ihre eigenen Artgenossen fressen, wenn ihnen danach ist. Katzen hingegen mag ich, obwohl sie niedliche Mäuse und gelegentlich ebenfalls ihre Artgenossen fressen (nämlich Kater die von Konkurrenten gezeugten Katzenwelpen). – Hier fällt für mich die Ästhetik schwerer ins Gewicht, sowie der Umstand, dass sie zu Menschen eine Art Beziehung aufbauen können, was mir als Menschentier, das fast alle Tiere unsympathisch finden, schmeichelt. – Alles dies ist unvernünftig und hat wie alle Tierliebe wenig mit Moral zu tun .

Was Tauben betrifft, also Haustauben, so sind meine Sympathien auf ihrer Seite. Sie sind lupenreine Vegetarier, picken Körner auf und plündern keine Nester. Sie schikanieren auch keine Kleinvögel in ihrem Revier, wie es Krähen und Elstern tun und – ein für mich wesentlicher Punkt – sie halten sich in Bodennähe auf und lassen sich daher von mir aus der Nähe beobachten. (Die in Düsseldorf eingewanderten Halsbandsittiche haben sich, was das betrifft, als herbe Enttäuschung erwiesen.) – Sieht man von der Gefiederfarbe ab und konzentriert sich nur auf das Köpfchen, sind Tauben sogar hübsch.

Der Staat (das kälteste Ungeheuer) geht – was sein Verhältnis zu Tauben betrifft – nicht von Sympathiegesichtspunkten aus und sieht Tauben eher als Schleudern von Keimen und Zerstörer von Gebäuden. (Letzteren Job führen Tauben nicht im Stile ihres entfernten Verwandten Godzilla aus, sondern viel zurückhaltender, nämlich durch die Überziehung von Flächen und Wänden mit ätzendem Kot.) Inkarniert als Stadt Düsseldorf verbietet der Staat es, die wilden Tauben zu füttern und tut sogar alles Mögliche, ihre Zahl herunterzufahren: Tauben werden in Taubenhäuser gelockt, wo man ihre Eier durch Gipskugeln ersetzt, sie werden kastriert, man hetzt ihnen Falken auf den bunten Hals und man versucht, sie zu „vergrämen“, was soviel heißt wie dass man ihnen den Aufenthalt an ihren Lieblingsorten unmöglich machen will, im harmlosesten Fall durch das Aufstellen schwarzer Plastikkrähen, die den Tauben egal sind.

Von der Stadtbevölkerung wird diese Politik allerdings nicht ausreichend unterstützt. Viele Düsseldorfer scheren sich nicht um die verhängten Bußgelder: Sie füttern die Stadttauben dennoch. Sie tun es, weil sie keine bekoteten Baulichkeiten besitzen und weil sie Tauben sympathisch finden. Vielleicht trotzen sie auch gegen die Zumutung, kein Essen an Hungernde verteilen zu dürfen. – Auf bewusster Grüninsel jedenfalls streut jemand täglich Körner und Krümel aus, und nicht nur das, er (oder sie) stellt den Tauben sogar einen Blechnapf zum Trinken zur Verfügung und im Sommer einen weiteren zum Baden. Im Napf zum Trinken liegt ein großer Stein, damit niemand darin sitzen kann und das Wasser sauber bleibt. – Da ich Tauben mag, mag ich auch den Menschen, der sich solche Gedanken macht. Außerdem gibt er mir Gelegenheit, den Vögeln zuzusehen, die sich zu einigen Dutzend auf dem Gras unter den Nussbäumen einzufinden pflegen, um ihr Futter entgegenzunehmen.

Denn Tauben sind gesellig, d. h. sie bewegen sich – jedenfalls in Düsseldorf Mitte und bis zum Nachmittag – im Schwarm. (Wenn sie nicht fliegen: im Rudel.) Auf der Wiese sitzt entweder keine Taube oder es tummeln sich viele dort. Gelegentlich kommt es vor, dass diese Vielen – ebenso gemeinsam, wie sie gelandet sind – auffliegen, ohne dass ein menschlicher Zuschauer den Grund erkennt. Gibt es da eine geängstigte Alpha-Taube, der die anderen folgen? Oder reagieren alle gleichzeitig auf denselben Reiz? – Es ist mir nicht gelungen, die Frage zu klären. Man müsste den Pulk in Zeitlupe filmen, um die erste Möglichkeit zu bestätigen oder auszuschließen. Oder man müsste danach googeln, vermutlich hätte man auch damit Erfolg.

Ihr Futter wird gewöhnlich am frühen Nachmittag auf die Wiese gestreut, die Tauben wissen das und finden sich rechtzeitig ein. Sind sie zu früh, warten sie geduldig – abgesehen von den erwähnten plötzlichen Massenfluchten, in deren Folge der Schwarm eine Weile über der Kreuzung Kreise zieht, vielleicht noch kurz ungeerdet auf Stromdrähten oder vor hochgelegenen Fenstern verweilt und dann zur geahnten Futterkrippe zurückkehrt.

Der Rasen ohne Futter ist für Vögel keineswegs ein nährstofffreier Raum, zur Zeit der Grasfrucht läßt sich Samen von den Stängeln raufen, ein relativ unergiebiges, aber gesundes Fressgeschäft, wie ich vermute, dem ein Teil der Wartenden nachgeht. Wer keine Vorspeise zu sich nimmt, und wer sich nicht ersatzweise auf den Bauch legt und döst, balzt. – Dieses Balzen, ein Aufblähen, Schwanzflügelspreizen und Herumtanzen im Kreis wurde von mir lange fehlgedeutet, ich nahm nämlich an, dass es auf Sex abzielt. Jetzt, nach Jahren der Beobachtung, weiß ich es besser.

Niemals, seit ich den Tauben auf dem Gras bei ihren Aktivitäten zusehe, führte die Balzerei zum Erfolg. Das Männchen rückt dem Weibchen auf die Pelle, könnte man sagen. Manchmal versucht es sogar, auf das Zielobjekt zu springen. Letzteres kommt sich sichtlich belästigt vor, weicht dem Balzbullen aus, läuft ihm davon – fliegt im Extremfall sogar davon – aber niemals tut es irgendwas, das als Entgegenkommen interpretiert werden könnte. Ich habe keine Ahnung, welchen Zweck diese aufgepumpte Aufdringlichkeit hat, es sei denn den, menschliche Zuschauer zu ärgern, indem man ihre artspezifische Maskulinität nachäfft. – Vielleicht hat sie eine Wirkung auf die Angebalzten, wirkt sich aber erst später, nämlich zu einer Zeit aus (abends z. B.), wo ich als Zeuge nicht mehr auf der Szene bin.

Trotzdem gibt es Sex unter Tauben, denn einmal – ein einziges Mal – gelang es mir, ihn zu sehen. Von Balzerei konnte in diesem Fall keine Rede sein. Das Männchen blähte sich nicht einmal ansatzweise, drehte seine Prachtfigur auch nicht gurrend im Kreis. Stattdessen schnäbelte es einfach ein wenig mit dem Weibchen, das ein wenig mitschnäbelte und sich dann auf den Bauch legte. Nicht mehr und nicht weniger. Was danach geschah, dauerte wenige Sekunden und geschah im Einvernehmen. Als es zu Ende ging, schlug das Männchen kurz mit den Flügeln und erzeugte im menschlich-männlichen Beobachter die selbstzufriedene Idee, er wisse, was gerade im Köpfchen des Flatternden vor sich geht. – Womit er vielleicht falsch lag: Stammesgeschichtlich liegen Tauben- und Menschenmännchen arg weit auseinander, so dass der Taubenorgasmus eine Spezialentwicklung sein könnte, die ganz anders funktioniert als unser Höhepunkt und sich daher womöglich ganz anders anfühlt …

Neben dem Sex ist auch der Tod ein Gesichtspunkt, unter dem man Lebewesen beobachten kann. – Ich weiß nicht, ob der Leser mit dem Begriff eines „Elefantenfriedhofs“ etwas anfangen kann. Tarzan-Autor Edgar Rice Burroughs belehrte mich darüber: Wenn ein wilder Elefant ahnt, dass er sterben wird, zieht er sich an einen versteckten Platz im Dschungel zurück. Da dieser Ort immer derselbe ist, sammeln sich dort im Laufe der Jahrzehnte enorme Mengen Elfenbein an, und wenn ein Abenteurer den Platz und das Elfenbein findet, kann er sich dumm und dämlich verdienen. – Eine ähnliche Tradition wie die Rüsselträger unterhalten auch die Tauben auf der Grüninsel. Die Ecke, an der die zwei Häuserfassaden aneinanderstoßen, dient ihnen als Sterbeplatz. Wird eine Taube krank, zieht sie sich dorthin zurück, sitzt mit halbgeschlossenen Augen zwischen Zigarettenkippen auf dem Bürgersteig nahe einer deckenden Hauswand und zittert, wenn ein Mensch vorbeikommt, denn zum Fliehen ist sie zu schwach. – Von den gesunden Artgenossen auf der Wiese wird sie mitleidlos ignoriert, denn die Geselligkeit der Tauben ist eine oberflächliche. – Bedauert wird sie nur von mir.

Regelmäßig stirbt sie in der darauffolgenden Nacht. Zu einer Ansammlung von Taubengerippen – mit denen sich ohnehin niemand eine goldene Nase verdienen könnte – kommt es nicht, da Vertreter der im Eck ansässigen Firmen, die ihre werbewirksamen Fenster nicht mit Vergänglichkeit in Verbindung gebracht sehen wollen, die Leichname verschwinden lassen. – Alles Fleisch, es ist wie Gras, sagen Brahms und der Prediger.