Meine Erfahrung mit Albträumen

Digital StillCamera„Ich träumte von bunten Blumen,
So wie sie wohl blühen im Mai;
Ich träumte von grünen Wiesen,
Von lustigem Vogelgeschrei.“

So heißt es in einem der Lieder aus Schuberts „Winterreise“ – die Realität nach dem Erwachen war dann gar nicht frühlingshaft, sondern „kalt und finster, es schrien die Raben vom Dach“. – Offenbar gönnte sich der einsame romantische Wanderer einen Wunschtraum, das kommt vor, obwohl es – wie man heute weiß – mehr unangenehme als schöne Träume gibt.

Zumindest ist das die Lehrmeinung, denn ich könnte mir gut vorstellen, dass der Anteil an Wunschträumen etwas mit der Komfortabilität des Wachseins zu tun hat: Wer seinen Tag frierend und / oder hungrig mittelalterlicher Feldarbeit opferte, hatte danach vielleicht ganz andere und glückseligere Träume als die Leute von heute, deren Trauminhalte von Psychologen oder Schlafforschern notiert werden. Die Albtraumlastigkeit unserer Nächte ist vielleicht der Preis für den Fortschritt, der dafür gesorgt hat, dass wir im Vergleich zu unseren von Mangel, Krieg und Schmerzen geplagten Vorfahren recht wunschlos vor uns hinleben.

Ich möchte in diesem Beitrag von meinen Albträumen erzählen, was nicht bedeutet, dass ich mehr davon habe oder hatte als gewöhnliche Leute. Für einen Blogeintrag sind sie einfach geeigneter, u. a. weil die sonstigen  entweder nicht jugendfrei sind oder todlangweilige Urlaubsidyllen, die nur Spaß machen, solange man sie träumt.

Das Wort „Albtraum“ hat bekanntlich etwas mit Elfen, also übersinnlichen Wesen zu tun, es spielt damit eigentlich auf eine bestimmte Art von Traum an, die heute als „halluzinatorische Schlaflähmung“ oder „Old-Hag-Phenomenon“ bekannt ist: Der Träumer fühlt sich völlig wach, kann sich aber nicht rühren, und in seiner Nähe oder gar auf seiner Brust oder sonstwie in Tuchfühlung mit ihm befindet sich ein unheimliches, gesichtsloses Monstrum – volkstümlich der „Alb“ oder „Nachtmahr“ – das als äußerst angsterregend empfunden wird. Träume dieser Art sind von wirklichem Erleben kaum zu unterscheiden, meine Mitbewohnerin – die einen durchmachen musste – bestätigt mir das. – Ich persönlich kenne die Erscheinung nicht. Ich bin nicht traurig darüber.

Mein Lieblingsphilosoph Wittgenstein schrieb einmal, dass Träume mindestens die Funktion haben, auf schlimmste Möglichkeiten vorzubereiten. Die meisten meiner Albträume lassen sich aus diesem Blickwinkel betrachten: Die geträumten Szenarien sind nicht (wie der Nachtmahr) völlig irreal, sondern Situationen, in die man als Mensch geraten kann, auch wenn die Wahrscheinlichkeit extrem gering ist:

  • Ich schreibe eine Klausur und weiß, dass alles, was ich schreibe, Unsinn ist und ich mein Abitur versaue. Ich war schon seit Jahren nicht mehr im Unterricht und jetzt, jetzt kommt es raus!
  • Ich bin in meinem Zimmer im Studentenwohnheim. Ich öffne einen Schrank, in einer Ecke finde ich vergessene und verfaulte Lebensmittel, Ungeziefer wimmelt darauf herum.
  • (Ähnlich: Ich halte ein Kleintier, habe mich lange nicht darum gekümmert, sehe in den Käfig und finde es tot und verwest.)
  • Ich habe jemanden ermordet (meist im Verbund mit anderen). Die Leiche könnte entdeckt werden, ich bin (anders als die anderen) in Panik!
  • Es ist 1939 oder 1914, in der Post ist mein Einberufungsbefehl – ich muss unmittelbar an die Front abfahren, ich schlottere vor Angst. Ich hätte irgendwas Bestimmtes tun müssen, um die Einberufung zu vermeiden. Ich habe es nicht getan, und jetzt ist es zu spät.

Diese Träume – die in Variationen von Zeit zu Zeit wiederkehren – sind wenig originell. Sie stehen offenbar sämtlich unter dem Leitmotiv eines vergangenen Handelns oder Unterlassens, das bösartige Folgen hat oder zu haben droht. Es sind also zweifellos schlimmste Möglichkeiten, die in ihnen vor Augen geführt und – sozusagen – trainiert werden. (Irgendwann bringe ich mal jemanden um und dann bin ich auf den Ärger mit der Leiche vorbereitet …)

Verwunderlich ist aber, dass andere und viel näher liegende Eventualitäten nie in meinen Träumen erscheinen, z. B. dass Angehörige sterben oder das Haus abbrennt oder mir eine Krebsdiagnose mitgeteilt wird. Warum nicht? Warum sind Möglichkeiten des Schuldigseins in meinen R.E.M.-Phasen so prominent vertreten und andere, wenigstens genauso gruselige Optionen viel weniger?

Zum Abschluss noch einen Albtraum von der irrationalen Sorte, den ich nur ein einziges Mal hatte, und der ein Plagiat  ist – was nicht meint, dass ich für diesen Blogbeitrag eine Traumerzählung geklaut habe. Nein, mein Unterbewusstes selbst hat den Traum gestohlen. – Er stieß mir zu, als ich im ersten oder zweiten Grundschuljahr war:

Ich sitze mit meiner Mutter am Küchentisch. Meiner Mutter fällt etwas herunter, ein Nähutensil, glaube ich, ich krieche unter den Tisch, um es aufzuheben und sehe, dass da bereits eine Hand ist, die nach dem Ding greift. Der Arm, an dem die Hand hängt, kommt aus der Wand. (Ich erwachte schreiend.)

Wer Rilkes „Malte Laurids Brigge“ gelesen hat, wird die Szene sofort wiedererkennen. (Wer den Roman nicht gelesen hat, sollte es vielleicht nachholen.) Bei Rilke ist das Erlebnis kein Traum, sondern eher eine Halluzination oder Vision und es gibt noch weitere Abweichungen (z. B. sitzt der Junge, der es erlebt, nicht neben seiner Mutter, sondern neben einer Erzieherin. Außerdem ist die Hand bei Rilke „ungewöhnlich mager“, während die Hand, die ich sah, schön war – der Arm steckte in meinem Traum übrigens in einer Art Rüstung, es war die Hand eines Erzengels).

Man wird mir glauben, dass ich als Grundschüler keine Werke Rilkes las (sondern Micky Maus und WAS-IST-DAS-Bände), das Buch war auch nie im Besitz meiner Eltern, ich habe das recherchiert. Mein Traum kann auch keine gefälschte Erinnerung sein, die etwa spontan entstand, als ich – mit ca. Anfang Zwanzig – den „Malte“ erstmals las. Denn dieser Traum war nicht irgendein Albtraum, den man zwischenzeitlich völlig vergißt, sondern es handelte sich um DEN  Albtraum meiner Kindheit. Er war mir zu allen Zeiten präsent.

Vor  meiner Rilke-Lektüre meinte ich übrigens durchaus zu wissen, woher das Motiv der „Hand aus der Wand“ stammt, nämlich zur Hälfte aus dem alten Testament (die „Menetekel„-Geschichte kannte ich aus dem Kindergottesdienst) und zur anderen Hälfte aus einer Darstellung in einem Bildband über die Indianer Nordamerikas – dort führten Schamanen eine Zeremonie aus, indem sie ihre Arme durch Löcher in einer Holzwand steckten.

Seit ich den „Malte“ kenne, nehme ich dagegen an (denn die Übereinstimmung ist einfach zu  groß), dass ich als Kind mit halbem Ohr oder vielleicht ganz ohne Bewusstsein eine Rilke-Lesung  im Radio mitbekam, denn das Radio lief ständig bei uns. – Dass ich der wiedergeborene  Dichter sein könnte, mich also selbst plagiert hätte, denke ich ausschließen zu können: Meine Studentenlyrik war zu lausig. (Sie ist es immer noch, denn ich habe sie nicht verbrannt.)

Zeitschleife

wickingerGeneral „Mad Dog“ Mattis, den Trump derzeit als Verteidigungsminister favorisiert, hat sich 2005 über den Umgang mit seinen militärischen Gegnern – den Taliban – wie folgt geäußert (CNN-Quelle hier):

„You go into Afghanistan, you got guys who slap women around for five years because they didn’t wear a veil,“ Mattis said. „You know, guys like that ain’t got no manhood left anyway. So it’s a hell of a lot of fun to shoot them.“

Trump ist ein erfahrener Vermarkter seines Familiennamens und seines eigenen Namens, und wie alle Marketing-Leute weiß er, dass erfolgreiche Werbung negative Vorurteile über das beworbene Produkt abbauen sollte. Eines der Vorurteile über Donald Trump besagt, dass er Frauen beinahe  so gering schätzt wie Farbige, an die seine Firma bis in die 70ger Jahre nicht vermieten wollte.

Dieses Vorurteil kann jetzt nicht mehr aufrechterhalten werden. Für „Mad Dog“ Mattis ist es, wie wir gesehen haben, ein ausgesprochenes Vergnügen, Frauenfeinde zu erschießen. Wer einen solchen Mann in sein Team holt, kann selbst kein Frauenfeind sein, wenn er nicht lebensmüde ist, und dafür hält man Trump nicht. – Die Ernennung ist ein cleverer Schachzug, ihr Ziel die Aufwertung der Marke Trump.

Ich gebe es zu: Mein kleiner Witz ist, äh, müde. – Die Sache selbst, die Bemerkung des Generals, ist sogar das Gegenteil von witzig, sie ist furchterregend.

Es ist naiv, zu glauben, dass das Töten von Menschen nur perversen Irren  Spaß machen könnte – die Menschheitsgeschichte ist eine Kriegsgeschichte: Wir stammen von erfolgreichen barbarischen Kriegern  ab, die zum Teil deswegen überlebten, weil sie ihr Handwerk mit Lust betrieben. Männer haben diese Erbschaft in ihren Genen, jeder Junge ist von Waffen fasziniert und malt sich (mit a hell of a lot of fun) ihre Anwendung aus, und das Haareausraufen grün wählender Eltern ändert daran nichts – der pazifistische Papa hat als Kind nicht anders getickt.

Und es ist nicht so, dass sich diese Faszination im Erwachsenenalter stillschweigend verliert. Im Unterschied zum Jungen weiß der zivilisierte Mann jedoch, dass es sich um eine fragwürdige  Faszination handelt. Man darf ihr nur in der Phantasie nachgeben oder virtuell – indem man z. B. Karl-May-Bücher liest, James-Bond-Filme anschaut, am PC herumballert oder ein Deko-Schwert über den Fernseher hängt. In der Wirklichkeit sind Waffen von Übel, sie dürfen nur in traurigen Ausnahmefällen eingesetzt werden, und Leute, die man fröhlich abmurxen kann, weil sie so schrecklich böse sind, dass ihnen alle Menschenähnlichkeit abgeht, gibt es nicht. Nicht wirklich.

Wie gesagt: Ein zivilisierter, erwachsener Mann hat das irgendwann gelernt. – „Mad Dog“ Mattis weiß es nicht, sein Fan Trump (der ihn, so wie man The Donald  kennt, sicher nicht trotz  der Bemerkung schätzt, sondern wegen) weiß es auch nicht. Das amerikanische Reich ist in den Händen der Barbaren, von denen wir abstammen – ein merkwürdiges Zeitschleifenphänomen, das auch die surrealen Gefühle erklärt, über die viele Zeitgenossen seit dem 9.11. klagen.

 

Siegen lernen

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Der Griff nach dem Sieg

Eigentlich wollte ich mich, wegen des Luther-Jahres, mit dem pöbelnden Reformator beschäftigen. Nun habe ich die Luther-Biographie zur Seite gelegt und befasse mich stattdessen mit President-Elect Trump, der mit Luther mehr gemein hat als nur den Hang zum Pöbeln. Martin Luther konnte – genau wie Donald Trump – auf deutsche Großeltern stolz sein und wie Trump überwand er arrogante Gegner aus dem Establishment durch den gekonnten Einsatz neuer Medien, wobei es sich in Luthers Fall um den Buchdruck handelte.

Beide Männer haben historische Bedeutung, die von Luther besteht u. a. darin, dass seine Tätigkeit eine Kette von Glaubenskriegen zur Folge hatte: Nach dem letzten lag Deutschland in Trümmern, ein Drittel seiner Bewohner war tot. – Da Trump noch nicht am Ende seines Wirkens ist, lässt sich seine historische Bedeutung und ob sie der von Luther gleichkommt noch nicht abschätzen, obwohl man bereits sicher sein kann, dass er eine hat. Selbst wenn seine Karriere noch vor Amtsantritt mit irgend einem lächerlichen Rückzug enden sollte (was ich mir vorstellen kann) – der Platz in den Geschichtsbüchern ist ihm sicher.

Der SPIEGEL zeigt auf dem Titelblatt einen Trump, der als glühender Komet auf die Erde losstürzt. Ich halte das für übertrieben. Wenn Trump fatal ist, dann sicher nicht für die ganze Welt. Jede Katastrophe hat auch ihre Günstlinge: Als die Osmanen Konstantinopel eroberten, ruinierte das den Gewürzhandel, aber es nützte den heimischen Kräutern, denn man brauchte sie jetzt als Ersatz. Der Untergang des oströmischen Reiches war der Beginn des Aufstiegs der Petersilie, die wir heute noch verwenden, obwohl sie schlechter schmeckt als die Gewürze Indiens. Ein cleverer Geschäftsmann hätte im Donnern der türkischen Kanonen das Zwitschern eines Vögelchens gehört: „Investiiiier in Petersiiilie!“

Wollen auch wir clever sein, sollten wir uns fragen, welcher Profit sich aus dem Einschlag des Kometen Trump ziehen lässt, anstatt entsetzt in den Himmel zu glotzen – wie die Schauspieler in Sturm/Kometen/Alien-Schinken der B-Klasse. Wir können den beleidigenden Stil von Trumps Wahlkampf als Ende der demokratischen Kultur bejammern, doch besser machen wir uns klar, dass dieser Stil seit letztem Mittwoch vom Erfolg geadelt ist. Man wird ihn kopieren, auch bei uns! Was das betrifft, heißt nämlich von Trump lernen siegen lernen – jedenfalls wird man das denken, und in deutscher Musterschülerhaftigkeit wird man es übertreiben.

Die Sprichwortlexika, aus denen die deutschen Politiker bislang ihre Volkstümlichkeiten, die durchs Dorf getriebenen Säue usw. bezogen, sind mit einem Schlag wertlos. – Was Politiker ihre Wahlkampfbürosklaven jetzt einkaufen lassen, sind Schimpfwortverzeichnisse. Unverschämte Lügen kann man auch ohne Lexikon produzieren, aber in einer öffentlichen Diskussion wird man auf eine Beleidigung aus dem Mund des politischen Gegners mit einer eigenen antworten müssen, und es darf nicht dieselbe sein. Hier benötigt man einen Vorrat, reichhaltig und flexibel, und ohne Fremdwörter, die überheblich wirken („Arschgesicht“ ist gut, „Butthead“ ist schlecht, denn das versteht nur die Elite). – Für solche Nachschlagewerke entsteht ein Markt, gerade jetzt, und wer clever ist, investiert dort, denn es ist ein goldener Markt.

Ich meine das ganz ernst. – Es mag sein, dass Trump in den nächsten Wochen der Kuckuck aus der Stirn springt* (ich habe das aus der ZEIT, die den Ausdruck von Gore Vidal hat), so eindrucksvoll, dass seine Amtsunfähigkeit auch für Rust- oder Bible-Belt-Bewohner sichtbar wird. Vielleicht stellt sich auch heraus, dass Putin Trump erheblich mehr zuwachsen liess als warme Worte und Clinton-Mails, oder irgendeine andere Scheiße aus seiner scheißereichen Familien- und Firmengeschichte fliegt in den Ventilator und The Donald um die Ohren. – Auch wenn das passieren sollte, und uns Trump als amtierender US-Präsident erspart bleibt: Die Tatsache, dass jemand in einer großen und alten Demokratie mit solchen Mitteln einen Wahlsieg erzielt hat, bleibt und wird nachwirken.

* Man denke hier an eine Kuckucksuhr, nach Mussolini / Orson Welles (in „Der dritte Mann“) die bedeutendste Hervorbringung der Schweizer Nation, über welche Trump – meines Wissens – noch nichts Abschätziges gesagt hat.

Was tatest du am Tag von Trumps Sieg?

dsc_0572„Ich? – Ja, natürlich erinnere ich mich. Mein Tag begann mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette (damals habe ich noch Tabak geraucht). Die Nachricht erreichte mich auf dem Klo, nachdem ich mein Smartphone angeworfen hatte.“

„Danach? – Ich zog mich an, ich musste zur Arbeit, an historischen Tagen kriegt man ja keinen Sonderurlaub. Ich ging noch kurz ins Schlafzimmer und sagte es meiner Mitbewohnerin, die dann nicht mehr einschlafen konnte – am Abend hat sie mir das vorgeworfen, sie war richtig sauer deswegen, mehr als wegen Trump.“

„Im Bus war eigentlich alles wie immer – Schüler, die auf ihren Smartphones spielten,  Kinderwagenmütter, Wäsche- und Rasierwassergeruch, Stau in Oberbilk. Ich hing natürlich auch vor dem Smartphone, postete bei Facebook: ‚Schon wieder so ein scheiß historischer Tag!‘ und wechselte dann dauernd zwischen SPIEGEL, Focus und CNN, bis es mir auf den Keks ging. Er hatte halt gewonnen, der Verlauf der Wahlnacht war mir egal.“

„Der Zug war dann so vorbildlich pünktlich da, dass ich keinen Bock hatte, gleich auf den Bahnsteig zu gehen, weil die ganzen Leute aus dem Zug die Treppe runterströmten. Von unten gesehen, ein bedrohlicher Anblick. Man konnte übrigens durchaus hoch gehen, es passierte einem nichts, man wurde nicht niedergetrampelt, man musste bloss durch die ganzen Parfümwellen durch, aber an diesem historischen Tage? Ich dachte, die eine Scheiße reicht mir, das muss ich mir heute nicht auch noch antun. – Ich ging dann später, da war nur noch ein Nachzügler auf der Treppe, ein alter Mann mit Trolli.“

„Im Zug gefiel mir dann die Mucke in meinen Ohren nicht – Al Green, den hatte ich am Vortag noch richtig genossen. Aber jetzt ging er mir auf den Nerv, die immergleichen Bläser, die immergleiche Orgel, das monotone Schlagzeug, die Stimme. Das war natürlich die historische Situation: Wenn gerade die Erde bebt, weil man den Marshmallow-Mann aus ‚Ghostbusters‘ zum US-Präsidenten gewählt hat, ist das für Soft-Soul der falsche Moment. Und abgesehen vom Planeten vibrierte in meiner Brusttasche dauernd das Smartphone, weil ich Kommentare zu meinem Spruch bekam. Ich hab sofort alle geliked, weil so selten jemand auf meine Posts reagierte. Eine Bekannte schlug vor, alten Männern das Wahlrecht zu entziehen, aber ich war 2016 schon zu alt, um das cool zu finden.“

„Vor Krefeld blieb der Zug stehen, und der private Lokführer meckerte über die Deutsche Bahn: ‚Da kann man vorbildlich pünktlich sein, wenn die anderen nicht wollen, klappt trotzdem nichts.‘ Der Bus war also weg – ‚Passt‘ dachte ich. Es war auch kalt und nieselte und jemand hatte auf den Bussteig gekotzt, aber wohl schon während der langen Wahlnacht, nicht erst vor fünf Minuten. – So ging der Tag weiter, es war eben ein scheiß historischer Tag.“

Träume sind real!

dsc_0001_1Ein Hund, der im Schlaf mit den Beinen zuckt, dann geweckt wird und desorientiert ist, hat wahrscheinlich geträumt. Mit Sicherheit aber hat er keine Meinung darüber, was mit ihm geschehen ist. Er wird sich kurz wundern, wo das Kaninchen hin ist, das er gerade noch verfolgt hat, und dann wird die Angelegenheit aus seinem Kopf verschwinden, spurlos. – Menschen dagegen haben Meinungen über ihre Träume, und sie reden darüber. Sie werden das schon sehr früh getan haben.

Stellen wir uns ein Rudel klischierte Steinzeitmenschen vor, auf einem mehrtägigen Jagdausflug, nicht in der Tundra sondern in der Savanne, also ohne Mammute. Eines Morgens erwacht einer der Jäger am glimmenden Lagerfeuer, reibt sich den Saharastaub aus den Augen und sagt:

„Ich stand noch eben auf dem Hügel dahinten. Auf der anderen Seite grasen Antilopen!“

Ein Genosse, der schon länger wach ist, wirft einen Blick auf die ferne Silhouette des Hügels und antwortet:

„Du lügst! Du hast die ganze Zeit hier gelegen, ich habe dich gesehen.“

Er könnte auch, ganz ernsthaft, sagen:

„OK, dann ist wohl deine Seele auf den Hügel geflogen. Wir sollten auf die Beine kommen, vielleicht erwischen wir die Herde noch.“

Aber wäre nicht noch eine dritte Antwort möglich? Nämlich die Antwort, die wir heute geben würden und Kindern vielleicht tatsächlich geben:

„Du glaubst  nur, auf dem Hügel gewesen zu sein. In Wahrheit hast du geschlafen. Dein Erlebnis war nur geträumt, eine Illusion!“

Ich denke, dass Menschen, sobald sie sprechen konnten, über die Möglichkeit des Lügens orientiert waren. Auch einfache Sinnestäuschungen dürfte ihnen geläufig gewesen sein. Doch der Gedanke, dass detailliert erinnerte Ereignisse vielleicht gar nicht stattgefunden haben, dass es so etwas wie Halluzinationen  gibt, ist anspruchsvoller als diese Konzepte – weniger naheliegend als die Annahme, dass Menschen als Geist ihren schlafenden Körper verlassen, woran sie sich beim Aufwachen erinnern. Was kann denn glaubwürdiger sein als Erinnerungen?

Es muss also eine Zeit in der Menschheitsentwicklung gegeben haben, in der man Träume für bare Münze nahm, und zwar vernünftigerweise. – Stellen wir uns nun vor, dass zeitgleich mit dem erwähnten Träumer ein dritter Jäger erwacht. Er hört von den Antilopen und sagt:

„Das kann nicht stimmen. Ich bin dir doch gerade begegnet, du warst nicht auf dem Hügel, wir hockten beide unten am Wasserloch und rannten weg, als das Krokodil auftauchte.“

Träume unterschiedlicher Menschen können sich widersprechen. Müssten die Steinzeitjäger nicht spätestens aus dieser Tatsache ableiten, dass es möglich ist, dass etwas nicht geschehen ist, obwohl  man sich genau daran erinnert?

Sicher würden sie viel eher annehmen (wenn sie sich nicht gegenseitig für Lügner halten), dass beide  Traumerzählungen von realen Geschehnissen handeln, dass aber eine der Traumfiguren – nämlich der erste Träumer im Traum des zweiten – nicht er selbst war, sondern ein Fake:

Offenbar hat ein weiterer Träumer, oder vielleicht auch ein Wesen ohne Körper (denn wenn Menschen unsichtbar ihre Körper verlassen können, liegt die Existenz von Geschöpfen nahe, die gar keinen Körper haben) sich verstellt und so getan, als wäre er ein anderer, vermutlich in böser Absicht. Verkleidung  könnte eine Idee sein, mit der die Steinzeitler vertraut sind – setzt sich nicht der Schamane einen Hirschkopf auf und tut so, als wäre er ein Hirsch, wenn er den Jagdzauber ausführt?

Ich gebe zu: Auch in der Steinzeit kann man die Realität von Träumen nur retten, wenn man eine Reihe Zusatzannahmen macht, etwa an Geister und parallele Wirklichkeiten glaubt. Aber sind diese Zusatzannahmen für einen naiven Menschen unwahrscheinlicher als Erinnerungen, denen gar nichts  in der Wirklichkeit entspricht? – Wenn sich in der Jagdgesellschaft ein Skeptiker befindet, steht er auf keinem guten Posten.

„Wenn ich nicht wirklich auf dem Hügel war, wie kann ich mich dann daran erinnern?“

würde man ihn fragen.

„Na, du hast es dir halt ausgedacht.“

„Du willst also sagen, dass ich lüge?“ (der Sprecher nimmt die Keule in die Hand).

„Nein, das nicht – ich meine, du hast es dir ausgedacht, aber du weißt es nicht.“

„Das ist doch völliger Unsinn, wenn ich mir die Antilopen ausgedacht hätte, müsste ich mich daran erinnern, dass ich sie mir ausgedacht habe. Ich erinnere mich aber an die Antilopen!“

Man beachte, dass die Theorie des Träumers mit der Keule noch im Mittelalter durchaus gängig war, nämlich als Auffassung der Kirche, dass geträumter Geschlechtsverkehr realer Verkehr mit einem attraktiv maskierten Dämon, einem Incubus oder Succubus sei. – Die Theorie des Skeptikers wurde später bekanntlich von Sigmund Freud popularisiert. Dazwischen lag die Annahme, dass Träume zwar ausgedacht sind, aber nicht vom Träumer selbst – sie werden ihm von Göttern und anderen höheren Wesen untergeschoben, die damit in verschwurbelter Weise etwas mitteilen.

Beim Bewusstseinsphilosophen Daniel Dennett (in „Consciousness Explained“, 1991) fand ich übrigens eine recht interessante Hypothese, wie es dem Gehirn gelingt, eine scheinbar sinnvolle Traumhandlung zu entwickeln, ohne dass es eine Instanz gibt, die sich die Handlung ausdenkt. – Leider ist sie zu kompliziert, um sie hier zu schildern.