Biologie und Lebenssinn. – Und zwei Arten Mystik

Eine bekannte Krankheit heißt bei den Medizinern „grippaler Infekt“. Wie das jetzt im Vordergrund stehende Corona wird sie durch Tröpfchen in der Atemluft übertragen. Ein durchschnittlicher Deutscher erlebte – erlitt – ein oder zwei dieser Infekte pro Jahr, bevor die Maskenpflicht die Krankheit aus dem Alltagsleben weitgehend entfernte.

Bei manchen Leuten – ich gehöre dazu – beginnt ein grippaler Infekt mit einer Euphorie, die ein oder zwei Tage anhält, während derer die körperlichen Symptome anwachsen. Es handelt sich um eine sehr reizvolle Euphorie, sie hat etwas von der Stimmung, in die man verfällt, wenn man z. B. mit Blick auf einen Sonnenuntergang am Mittelmeer und „Wuthering Heights“ von Kate Bush im Ohr an einem Rotweinglas nippt. Oder ich fühle mich so, als wäre ich nach zwei Jahren Heimweh auf einem düsteren Planeten endlich nach Hause zurückgekehrt, dankbar und mit Tränen in den Augen. – Die Welt ist wieder schön!

Natürlich hat diese Stimmung keine andere Ursache als einen leicht übertriebenen Output von Glückshormonen / körpereigenen Opiaten, mit denen das Gehirn auf die Virusinfektion reagiert. Zweifellos ein Mechanismus, der dafür sorgen soll, dass ein erkrankter Mensch vor lauter physischem Ungemach nicht völlig auf den Hund kommt und ihm ein gewisser Grad an seelischer Verteidigungsfähigkeit gegen andere Gefahren erhalten bleibt. Vielleicht wirkt ein glücklicher Kranker auch sympathischer als ein nur jammernder, was es ihm erleichtert, seine Mitmenschen um Hilfe zu bitten, die einem schleimtriefenden Huster und Nießer sonst vielleicht eher aus dem Weg gehen würden.

Ist meine Euphorie – wenn man ihre Herkunft betrachtet – also beileibe nichts Wunderbares, sondern eine Illusion? Sollte ein vernünftiger Mensch ihr gegenüber Distanz wahren und sich selbst den Zeigefinger vor’s Gesicht halten: Achtung, die Welt ist gar nicht so schön, wie sie dir jetzt vorkommt, dein Gehirn betrügt dich?

Wer jetzt in der Versuchung ist, mit „Ja“ zu antworten, sollte sich überlegen, wie er nach dieser Antwort z. B. die Liebe einer Mutter zu ihrem Säugling beurteilen müsste. Auch hier ist das Gefühl nämlich Folge einer bestimmten Gehirnautomatik, deren evolutive Funktion darin besteht, den im Säugling verkörperten Kopien der eigenen Gene die Fortexistenz zu sichern. – Wer sich besser auskennt mit dem aktuellen Stand des Neodarwinismus als ich, würde diese Aussage vielleicht modifizieren oder ergänzen, aber was auch immer die natürliche Sachlage ist: Das, was sich hinter den Kulissen der Liebe einer Mutter befindet, ist selber weder Liebe, noch schön, noch auch nur sinnvoll. Die Evolution des Lebens ist selbst ein zufälliges Produkt der frühen Erdgeschichte, und sie vollzieht sich bis zum heutigen Tag in Zufällen (Mutationen). Ein Lebewesen steht – von diesem Standpunkt aus betrachtet – auf keiner höheren „Sinnstufe“ als ein Felsbrocken in der Wüste.

Gefühle, Werte, Sinn aller Art existieren nur für höhere Lebewesen und basieren ausschließlich auf biologischen und letztendlich physikalischen Vorgängen, die als solche mit Gefühlen, Werten und Sinn nicht das geringste zu tun haben. – Das darf nicht so verstanden werden, als wäre aller Sinn „eigentlich“ sinnlos oder illusorisch. Ein Gefühl ist ein Gefühl, völlig gleichgültig, was hinter den Kulissen ist, denn wir als fühlende „Seelen“ haben unseren Platz nicht hinter den Kulissen, sondern davor.

Letztere Einsicht hat eine Konsequenz, die betont werden muss: Nie darf man eine seelische oder geistige Erscheinung dadurch zu entwerten versuchen, indem man auf ihre biologische Bedingtheit verweist. Denn alle seelischen Erscheinungen sind gleichermaßen biologisch bedingt, haben als Hintergrund das sinnlose Getriebe eines durch Evolution hervorgetriebenen Molekülaggregats. – Nehmen wir als Beispiel die Mystik, das Bedürfnis nach Vereinigung mit einem anderen, meist göttlichen Wesen oder dem (quasi-göttlichen) Universum. Diese Vereinigung, wenn sie subjektiv erreicht wird, vollzieht sich nicht für längere Zeit, sondern in Momenten.

1970 veröffentlichte die Rockgruppe The Who einen Song – „Bargain“ [=vorteilhafter Handel, Schnäppchen] – dessen Bedeutung nach späterer Auskunft des Komponisten (Pete Townshend) religiös ist. Er enthält Strophenverse wie die folgenden:

„I’d gladly lose me to find you
I’d gladly give up all I got
To catch you I’m gonna run and never stop

I’d pay any price just to win you
Surrender my good life for bad“

Der Refrain lautet:

„I’d call that a bargain –
the best I ever had“

In einer „Bridge“ gegen Ende des Songs macht der Ich-Erzähler explizt, welches Ziel am Ende des Rennens stehen soll – was mit dem sehr hohen (aber relativ winzigen) Preis erworben wird:

„I know I’m worth nothing without you
In life one and one don’t make two
One and one make one
And I’m looking for that free ride to me
I’m looking for you“

Als der Song herauskam, hörte man ihn als romantisches Liebeslied. Der (von Pete Townshend zweifellos beabsichtigte) Witz ist, dass beide Interpretationen mit dem Text verträglich sind. Das „lyrische Ich“ sieht den Sinn seines Lebens darin, die Vereinigung mit einem Wesen herbeizuführen. Nach dem einen Verständnis ist dieses Wesen ein Gott („der“ Gott) und nach dem anderen eine irdische Frau. Für diesen Sinn beabsichtigt das lyrische Ich, alles andere zu opfern, ohne dass es dabei seiner Erwartung nach zu einem wirklichen Verlust kommen kann.

Die religiöse Lesart mag ein wenig abgehoben erscheinen – ich denke, dass kaum ein Hörer darauf gekommen ist – , jedoch In der zweiten hat das Lied einen klaren und wohlbekannten Bezug auf die Wirklichkeit: die romantische Liebe, vulgo Verliebtheit. Das psychologische Standard-Buch über dieses Thema ist von Dorothy Tennov und entstand in den 70ger Jahren. Die Autorin stellt überzeugend heraus, dass Liebe als Verliebtheit sich von allen anderen Erscheinungen des menschlichen Lebens, die man als „Liebe“ bezeichnet, so sehr unterscheidet, dass sie ein eigenes Wort verdient (das von ihr geprägte „Limerence„). Sie betont, dass es bei einer Verliebtheit primär nicht um das Erlangen von Sex oder das Herbeiführen einer stabilen Beziehung geht:

„The goal of limerence is not possession, but a kind of merging, a „oneness“, the ecstatic bliss of mutual reciprocation.“

Trotz der Ähnlichkeit der Ziele werden die zwei Arten der Mystik, nach denen der Songtext ausgelegt werden kann, mystische Gottsuche und romantische Liebe, traditionell nicht als gleichwertig betrachtet. Das mystische Verlangen, das sich auf das Göttliche ausrichtet, ist eine todernste, intellektuell ehrenwerte Sache. Große Philosophen von Plotin bis Wittgenstein haben davon gesprochen. Limerenzen dagegen – sie sind eine Angelegenheit der populären Muse. Liebeslieder in der Art von „Bargain“ (in der erotischen Interpretation) hört man zur Unterhaltung, kaum jemand hält sie für ernsthafte Vorschläge zur Sinngebung des Lebens.

Warum diese unterschiedliche Bewertung? Zum einen könnte man hier die bekannte Tatsache anführen, dass Verliebtheiten enden und Paare auseinandergehen. Romantische Liebe ist sterbliche Liebe, ein vorübergehendes Phänomen, das vielleicht kurzfristig überaus wichtig erscheint, über das man im Nachhinein aber vielleicht lacht. – Wo es dagegen um Gott geht, geht es um das Ewige und um einen Gegenstand, der über die Jahrtausende hinweg von sehr vielen Menschen begehrt oder gesucht wurde.

Ein weiterer Einwand gegen die Bedeutsamkeit der romantischen Liebe ist (und da sind wir wieder beim Thema dieses Blogs), dass Liebe „letztendlich“ immer etwas mit Sexualität zu tun hat und daher ganz offenkundig auf die evolutionär erworbenen Verhaltensmechanismen zur Arterhaltung verweist. – Der Lebenssinn, der sich demjenigen öffnet, der wie in „Bargain“ fühlt (und damit eine Frau und nicht Gott meint) ist nicht nur zeitweilig, er hat auch in Sexualhormonen und bekannten Reiz-Reaktions-Mustern einen banalen und wenig großartig erscheinenden Hintergrund.

Ich halte diese Einwände für nicht gerechtfertigt. Der Ausdruck „Sinn des Lebens“ hat kein objektives Korrelat – der Sinn des Lebens ist das, was einem Menschen gerade als Sinn des Lebens erscheint und nichts anderes. Dass der Sinn daher wechseln kann – nun, das ist so selbstverständlich, wie es selbstverständlich ist, dass der Blick auf die Welt wechseln kann, wenn ein Mensch z. B. aus einer Depression wieder auftaucht, oder – umgekehrt – in sie hineingleitet. Man sieht die Welt unrettbar düster oder man sieht sie als neutrale oder (wie ich in meiner grippalen Euphorie) schöne Welt – keine dieser Blickweisen läßt sich objektiv begründen und kann daher als richtig oder falsch bezeichnet werden.

Und was die Biologie betrifft – dazu wurde alles Wesentliche in diesem Blog schon gesagt: Natürlich hat der temporäre Lebenssinn des Verliebten einen biologischen Hintergrund. Der Lebenssinn des religiös-philosophischen Mystikers hat ihn allerdings genauso, obwohl er weniger auf der Hand liegt, einfach, weil jedes menschliche Verhalten, Denken und Empfinden ihn hat. – Immer gibt es den Bereich hinter den Kulissen. Interessieren muss er uns nicht, denn unser aller Platz ist davor.

Ich möchte noch hinzufügen, dass ein wesentlicher Vorteil auf Seiten des Liebesmystikers liegt: Der Gegenstand, auf den er sich bezieht, existiert im Regelfall wirklich, was für das Göttliche fraglich erscheint. (Im Regelfall heißt: Es sind – gerade heutzutage – Fälle denkbar wie der von E.T.A. Hoffmann im „Sandmann“ ausgemalte: Dass sich ein Mensch in einen Roboter verliebt, weil er ihn für einen Menschen hält.)

Der Kopf des lebendigen Gottes (Ich und der Dalai Lama)

Indien, 2004

Unsere Gastgeber kannten eine Deutsche, die uns in einem kleinen Kastenwagen zum Kloster mitnehmen würde. Wie die meisten westlichen Bewohner des Kullutales, wenn sie den Aufenthaltsort nicht allein wegen des billigen Cannabis gewählt hatten, war sie sehr „spirituell“: Mit gedämpfter Stimme erzählte sie uns von sehr armen Indern, die versucht hatten, sich auf Brachland niederzulassen, das den kleinen Göttern gehörte.

Manali, wo wir unser Quartier hatten, verehrt eine größere Göttin – Hadimba – die bei einem populärem Fest einmal im Jahr von ihren kleineren männlichen Kollegen besucht wird. Jene haben in der Gegend ihre Tempel und werden anlässlich der Veranstaltung in der Gestalt von Masken aus Edelmetall zum Tempel der Hadimba getragen.

Wir hatten diesen Höhepunkt des örtlichen Hinduismus erlebt, es war sehr malerisch, archaisch anmutende Blechinstrumente machten einen Höllenlärm und Männer in türkisch wirkenden Gewändern zappelten einen Säbeltanz herunter. An einem dem Shiva geweihten Baum in der Nähe hingen die Gehörne geopferter Wasserbüffel.

Junge indisch Männer unter den Zuschauern, die den Jahrhunderte alten Humbug ablehnten, zeigten das mit ihrer rasierten Oberlippe, die ein Bekenntnis zur Moderne war. – Jedenfalls, so erzählte uns die Dame, sei es den Menschen, die versucht hatten, den kleinen Göttern ihr Land zu nehmen, SEHR übel ergangen, womit sie übersinnlich verursachtes Unheil meinte.

Dann gratulierte sie uns, dass wir das Glück hatten, gerade jetzt in der Gegend zu sein, wo der Dalai Lama ein neues Kloster einweihen wollte. Sie war in feierlicher Stimmung.

Auf der Fahrt diskutierte sie mit unseren Gastgebern über den Skandalfall eines Deutschen, der eine Inderin aus niedriger Kaste geheiratet hatte. Von ihr wurde das missbilligt, sie war übrigens gerade partnerlos. Zwar sei die dunkelhäutige Frau sehr schön, aber auch ganz primitiv und ungebildet. – „Was für ein Aufstieg für ihre Familie!“ – Es klang so, als hätte der schönheitssinnige Deutsche mit der Heirat einer Einheimischen eine Art Tabu gebrochen.

Wegen der Nähe zu Tibet lebt im Kullutal eine große tibetische Minderheit, deren Kern sich nach der chinesischen Invasion dort niedergelassen hat. Ihre Angehörigen kamen mir geschäftstüchtiger vor als die Ureinwohner und die Frauen waren für Blickflirts empfänglich – bei Inderinnen ein Ding der Unmöglichkeit (keine Ahnung, wie der Tabubrecher an seine Frau kam).

Inder, Tibeter und rot gewandete Mönche wimmelten auf der Straße, die zum – sehr traditionell gebauten – Kloster führte. Neben der Eingangstreppe prangte ein grünes Banner: „HEARTLIEST WELCOME TO THE NOBEL PEACE LAUREATE HIS HOLINESS THE 14. DALAI LAMA“, Sonnensegel überdeckten die Dachterasse des zweistöckigen Flügels.

Plötzlich kam Bewegung in die zudrängende Menge: Menschen warfen sich auf den Boden und drückten Gesicht und Hände auf die Erde. Mit Mühe konnte ich am oberen Ende der Treppe den Kopf erkennen, auf den sich die Verehrung bezog. Das war der Dalai Lama (mehr habe ich nicht von ihm gesehen).

Der Dalai Lama sollte im Inneren, ich meine im Klosterhof, predigen. Wollte man zu den Hörern zählen, musste man seinen Fotoapparat abgeben. – Ich überlegte eine Weile und entschied mich dafür, auf dem Vorplatz zu warten, aus Angst um meine Kamera, aus Angst vor Menschenmassen und weil ich meinen Tibetisch-Kenntnissen misstraute.

Der spirituellen Dame, der wir unser Hiersein dankten, fiel der Unterkiefer herunter. Sie wird sicher noch heute von dem unbegreiflichen Narren erzählen, der die Gelegenheit hatte, den Dalai Lama predigen zu hören und freiwillig darauf verzichtete.

In der Nähe war zuvor unter rosa Zeltdächern Essen ausgegeben worden, große Kessel voller Reis wurden warm gehalten. Einige Mönche hielten auch nach Beginn der Veranstaltung die Stellung, so dass ich einen kostenlosen Pappbecher voll gesalzenem Tee mit Milch organisieren konnte, den ich tatsächlich trank (in Indien ein Vabanque-Spiel).

Während ich auf das Ende wartete und die zwischen meditativ und schrill wechselnde buddhistische Musik aus dem Kloster drang, fotografierte ich die bunten Menschen, die sich noch draussen aufhielten – in dem ruhigen Bewusstsein, wenigstens den Kopf eines lebenden Gottes gesehen zu haben.

Der Dalai Lama ist nach Ansicht der Gläubigen die Reinkarnation eines Bodhisattvas. Bodhisattvas waren einst Menschen, die Erleuchtung erlangt hatten, d. h. ihr Leben mit dem Eingang ins Nirvana hätten beenden können, darauf aber aus Menschenliebe verzichteten, um Anderen auf ihrem Weg zur Erlösung beizustehen.

Die Bodhisattvas wurden eingeführt, als sich zeigte, dass für viele Gläubige die von Buddha gepredigte Selbsthilfe ein zu kahler Religionsinhalt war. Sie sind ein Ersatz für die vom Buddhismus ignorierten oder geleugneten indischen Götter.

Der Dalai Lama ist auch einer der bekanntesten und verehrtesten Menschen, die derzeit auf der Erde leben. Ich persönlich hatte immer meine Zweifel: Der Mann wirkte auf mich immer viel zu rational und wann immer ich ihn im Fernsehen sehe, erneuert sich dieser Eindruck. Er hat sogar Interesse an Wissenschaft und Technik. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er an die obskure tibetische Mischung aus Schamanismus und Spätbuddhismus wirklich glaubt (eine Lehre ist z. B. – ich fand das in einem Buch, für das der Dalai Lama als Autor zeichnete – dass Rothaarige und anderweitig körperlich Entstellte(!) nicht erleuchtungsfähig seien).

Ein weiterer Punkt ist, dass viele naive Bewunderer in den tibetischen Mönchen traditionelle Pazifisten und im Dalai Lama einen pazifistischen Heiligen sehen. Tatsächlich ließen die Lamas im Laufe der Jahrhunderte eine Menge Menschen für den Erhalt ihrer Herrschaft in den Tod gehen und der heutige Dalai Lama unterstützte in den 50gern reicht eifrig den bewaffneten Widerstand gegen die chinesischen Okkupatoren. Dass er es jetzt nicht mehr tut, dürfte schlicht mit der Aussichtslosigkeit zusammenhängen. Pazifismus sollte aber nicht von den Siegchancen abhängen. – Ich verehre derzeit eine andere buddhistische Gottheit. Sie wird mir nicht ins Nirvana und überhaupt nirgendwohin verhelfen, ist aber liebenswert.

Offenbarung der Schaumgöttin

Teil 1

(Schauplatz: Kopf eines Matrosen an Bord eines Schiffes vor Madagaskar, a. D. 1653)

MATROSE: Scheinbar bist du meine neue Verliebtheit, siehst aber aus wie ein Wurm – nur die Maske, die du vor dein Kopfende gebunden hast, ist das Gesicht der Meerjungfrau. Du stößt Schaum aus wie eine sterbende Schnecke, bist aber so lebendig wie ein Wespennest und offenbar wächst du. Vor einer Woche spürte ich ein Kitzeln in meinem Hirn, das mich nervös machte. Das warst du und jetzt quetschst du dich durch die grauen Windungen, wie ein echter Wurm durch die Erde. – Ich mag dich nicht, ich will dass du verschwindest. Ich werde einen Maulwurf auf deine verdammte Spur setzen.

WURM: Warum nennst du sie Meerjungfrau? Soweit ich weiß, wurde sie an Land rekrutiert. Oder glaubst du sie will erlöst werden? Etwa durch dich?

MATROSE: Um Gotteswillen – nein, es hat nichts mit dem alten Märchen zu tun. Niemand muss so wenig erlöst werden, wie diese Frau. Ich nenne sie Meerjungfrau, weil Meerjungfrauen ausserhalb des Wassers fremd sind, menschenförmige Aliens aus einer anderen Welt und sie kommt mir etwas alienhaft vor.

WURM: Wenn du jeden zum Alien erklärst, der sehr jung ist und intelligenter als du – was deine Menschenkenntnis überfordert – ist das ganze Schiff voller Außerirdischer. Die Benennung ist eine von mir gemachte Blase, in der du herumstolperst.

MATROSE: Ja, deine verdammten Blasen. Man bringt die zum Platzen, in der man sich gerade gefangen hat, hält sich für frei und gesund und merkt nicht, dass man sich nur in einer größeren Blase befindet. Genau deshalb hasse ich dich, Wurm. Verrdorren sollst du mit deinem Schaum.

WURM: Wenn du das willst? Du hast doch das Buch gelesen, das von mir handelt und von meiner Bekämpfung. Es ist von Stendhal und legendär. Folge doch einfach seinen Ratschlägen! Du könntest dich z. B. in Lebensgefahr begeben: Ein kleiner Aufenthalt im Schützengraben tötet jede Verliebtheit zuverlässig ab. – Aber bist du denn so scharf drauf, mich aus deinem Gehirn zu schaffen? – Und was meinen Schaum betrifft, ich bin daraus geboren. Ich bin dem Schaum verpflichtet.

MATROSE: Du betreibst Etikettenschwindel. Du trägst das Gesicht der Meerjungfrau und hast nichts, aber auch gar nichts mit ihr zu tun.

WURM: Ja, ich hörte, dass du nicht mehr an Telepathie glaubst. Seit die Vorgängerin der Seejungfrau, die Braunhäutige, deren ständige Anwesenheit in deiner Seele du ja so sicher zu spüren glaubtest, plötzlich ihr Kind verlor und das auf schreckliche Weise. Und du – natürlich ganz woanders – hattest nichts von ihrem Schmerz und ihrer Panik gemerkt und das machte dich völlig fertig. Du hattest wirklich daran geglaubt und es stellte sich als Luftnummer heraus, die magische Beziehung zwischen euch existierte nicht. Es gab nur eine meiner Blasen.

MATROSE: Und das nehme ich dir übel. Der zweite Punkt ist natürlich die Aussichtslosigkeit. Warum zwingst du mich dazu, mich in jemanden zu vergucken, ohne dass der Schatten einer Hoffnung besteht? Selbst wenn ich jung und schön wäre, wäre diese Frau für mich unerreichbar.

WURM: Aber nur, wenn du auch dann in sie verliebt wärst. Verliebtheit dient nicht dazu, Beziehungen zu stiften. Sie verhindert sie zuverlässiger als Hässlichkeit, und das weißt du.

MATROSE: Aber gelegentlich trifft man doch Paare, bei denen man …

WURM: … den Eindruck hat, dass beide ineinander verliebt sind? Dann ist die Verliebtheit wenigstens des Mannes erst später entstanden. Frauen sind nicht entzückt, sondern befremdet, wenn man sie verliebt anschaut. Sie wollen, wenn überhaupt, sexuell angeblickt werden. In beiden Fällen erweitert sich die Pupille des Schauenden, aber irgendeinen subtilen Unterschied gibt es. Sie können das auseinanderhalten. Als ob das nicht auch deine Erfahrung wäre.

MATROSE: Ja, ja: Finde eine Frau interessant, aber nicht zu interessant, begehre ihren Körper, während du mit ihr redest und behandle sie leicht von oben herab, z. B. mit wohlwollender Väterlichkeit. Und sei positiv und rede enthusiastisch über die Pläne, die du hast.

WURM: Verliebtheit ist Verehrung und Verehrung ist das genaue Gegenteil von all dem! Wer verehrt, behandelt sein Idol naturgemäß von unten herauf und nicht von oben herab. Und positiv und enthusiastisch kann er auch nicht sein, weil er Angst hat. Stendhal stimmt mir zu: Jeder Verliebte hat Angst vor der Geliebten. – Und wer eine Göttin vögeln will, wird in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Hunden zerrissen, also kommt diese Idee auch nicht in Frage. Gut, es ist also aussichtslos, so wie es bei den Vorgängerinnen der Meerjungfrau ebenfalls aussichtslos war. Aber was kratzt dich das? In Wahrheit willst du doch nie eine Beziehung mit diesen Frauen, selbst dann, wenn dich der Gedanke elektrisiert.

MATROSE: Diese Frauen. Es waren nur drei in 25 Jahren Ehe.

WURM: Du bist nämlich bestens bedient, mit der, die du hast, auch ohne meinen Segen. – Ich sehe keinen Grund, warum du mir den Maulwurf auf den Hals wünschst.

MATROSE: Es gibt genug Gründe. Zunächst einmal ist es lächerlich. Es ist lächerlich wie die Hölle, sich in eine dreissig Jahre jüngere Frau zu verlieben.

WURM: Bei Goethe war der Altersunterschied noch größer. Ich meine Ulrike v. L. Sie war 18 und er war ein Greis.

MATROSE: Ich bin nicht Goethe. Goethe war nicht einfach ein Greis, sondern ein Patriarch mit Prestige und Geld. Ich bin ohne all das, das ganze Schiff würde schon jetzt auf mich herabblicken, wenn ich es wagen würde, etwas weniger nett zu sein. – Es ist lächerlich, im absoluten Sinne, auch wenn noch niemand über mich lacht.

WURM: Es war viel lächerlicher bei Goethe. Er hat ihr nämlich einen Heiratsantrag gemacht, als alter, zerknitterter Sack! Du willst nichts von ihr, jedenfalls nichts Reales.

MATROSE: Gut, dann ist es meinetwegen weniger lächerlich. Es ist mir aber lästig, unerträglich, dass ein Wurm in meinem Gehirn herumkriecht. Wegen dir renne ich von einer Seite des Decks an die andere und zurück. Das Schiff beginnt zu schwanken von meinem Gezappel. Du kostest mich Kraft und mit den von deiner Masse zusammengequetschten Neuronen kann ich nicht denken. Oder nur an die Meerjungfrau, und das läuft auf das Blasenspiel hinaus. Eine bringe ich zum Platzen, und der scheinbar freie Himmel ist nur die Wölbung der nächsten. Ich ersticke in deinem Schaum.

WURM: Aber hast du nicht auch Spaß an dem Spiel? Regt es nicht die Lebensgeister an? Hast du nicht wieder das Bedürfnis, was aus dir zu machen, das dir seit Jahren abhanden gekommen war? Ein paar kleine Optimierungen an Bauch und Intellekt? Raus aus der Altersdepression und rein in den Verjüngungspark?

MATROSE: Geh zur Hölle, und nimm deinen Blasenfroschlaich mit. Ich will dich nicht in meinem Kopf. Ich werde dich aushungern, ich verlasse das Schiff und bleibe zwei Wochen an Land, das müsste ausreichen.

WURM: Viel Glück!

Teil 2
(zwei Wochen später, derselbe Schauplatz)

WURM: Und? Hat es gewirkt? Bist du mich endlich los?

MATROSE: Nein. Du bist sogar noch gewachsen. Regelrecht aufgequollen.

WURM: Und, ist das ein Wunder, wenn du deine Zeit an Land damit verbringst, am Strand zu hocken und aufs Meer zu starren, weil seine Wellen auch das Schiff bespülen, wo die Meerjungfrau ihre Arbeit tut, während du nicht dabei bist?

MATROSE: Halt den Mund. Ich hatte mich von meiner Verliebtheit verabschiedet. Es hätte funktionieren müssen.

WURM: Das denkst du! Du hast dich vor zwei Wochen nicht von mir, sondern von ihr verabschiedet! Wie war das noch mal?

MATROSE: Sie saß da, und ich sagte, ich gehe jetzt an Land und wünsche ihr alles Gute. Sie hatte die Nägel dunkelrot …

WURM: … worauf du normalerweise gar nicht stehst …

MATROSE: … und war perfekt gekleidet und perfekt insgesamt und so verdammt schön, schön wie eine Göttin.

WURM: Was du auch gedacht hättest, wenn sie mit Stoppelhaar und mit einem Müllsack bekleidet da gesessen und nach Katzenpisse gerochen hätte. Mein Freund, du hast nichts beendet, sondern etwas begonnen, nämlich ihre Idealisierung. Und du hast noch etwas viel Schlimmeres getan als das!

MATROSE: Nenn mich nie wieder Freund! Verliebte haben keine Freunde, wie Stendhal sagt, und erst recht nicht ihre Verliebtheit. Idealisieren tue ich die Meerjungfrau nicht. Ich finde sie toll in allem, was ich wahrnehme und schließe daraus auf den Rest, und ich hüte mich vor Spezifizierungen. Aber was habe ich noch Schlimmeres getan?

WURM: Na, wie behandelt sie dich denn jetzt, nach deiner Rückkehr an Bord?

MATROSE: Etwa so nebensächlich wie das Kajütenmobiliar, was – schwer zu verdauen ist …

WURM: Du hast mich zwar nicht erwähnt ihr gegenüber, genau wie du es in deinen blutigen Eiden geschworen hattest, aber du hast mich ihr vorgeführt. Aus deinen weiten Pupillen hat der Wurm herausgeschaut, und da sie intelligent ist, hat sie ihn gesehen. Du wolltest den Mund nicht öffnen und ihr keine blödsinnigen Avancen machen, und du hast es doch getan. Dann eben mit verschlossenem Munde.

MATROSE: Ja, aber was ist so schlimm daran? Was immer sie gesehen hat, es war völlig unverbindlich. Wenn kein Wort gefallen ist, ist auch nichts passiert. Ich bin ihr nicht auf die Nerven gegangen und dennoch zieht sie sich vor mir zurück, als hätte ich sie ständig mit Blumen und Gedichten bombardiert und vor ihrem Fenster gesungen.

WURM: Was du natürlich gerne getan hättest. – Denk einfach an die Statistik: Wenn du dich in jemanden verliebst, ist es wahrscheinlich, dass du nur einer unter vielen bist. Die Frau hat Erfahrung mit Idioten deiner Kategorie, und sie ist nicht immer gut damit gefahren. Unter Stendhals Rezepten zur Entliebung ist ein teuflisches – tue der geliebten Person was Böses an. Vielleicht ist sie schon auf ein männliches Monster gestoßen, das diesem Rat gefolgt ist, meinst du nicht, dass das möglich ist?

MATROSE: Ja, natürlich, aber irgendwie glaube ich nicht, dass ich so aussehe, als ob ich zu so etwas fähig wäre.

WURM: Woher weißt du, wie du in ihren Augen aussiehst? Ihrer reizenden Alienhaftigkeit entspricht eine ebenso große Fremdheit deiner Person für sie. Die Meerjungfrau hat keine Daumenregel, nach der sie die Gefährlichkeit von jemanden einschätzen kann, der mehr als dreißig Jahre älter ist als sie. Du bist ihr also unheimlich. – Und dann ist da noch ein anderes Problem: Du weißt doch, wie du in den Jahren reagiertest, als man sich ungefragt in dich verliebte?

MATROSE: Man unterstellte mir Vorzüge, die ich mir selber nicht unterstellte und erhob damit – so kam es mir vor – eine Forderung, dem Bild dieser Frauen gefälligst zu entsprechen. Was eine Zudringlichkeit war. – Aber was willst du mit dem Zynismus, den du jetzt in einem fort über mich ausschüttest? Solltest du meine Illusionen nicht unterstützen, anstatt sie zu untergraben? Du bist meine Verliebtheit.

WURM: Das habe ich nicht nötig. Was immer ich sage, es bringt dich lediglich aus einer Blase in eine noch fatalere. Was soll z. B. dieser Text?

MATROSE: Ein weiteres Rezept Stendhals – eine Verliebtheit zerstören, indem man möglichst viel über sie spricht. Oder halt schreibt.

WURM: Das ist so ähnlich wie: Ein Verbrechen vergessen machen, indem man ein schriftliches Geständnis ablegt. – Blase! – Blase! – Und, beiläufig bemerkt: Die Göttin ist nicht sie, die Göttin bin ich.

MATROSE: Unter den Gesichtern, die du aufsetzen kannst, steckt immer das Nichtgesicht des Wurmes. Es ist unmöglich, sich in dich zu verlieben. Bei der Meerjungfrau ist es nicht unmöglich, sondern unvermeidlich.

WURM: Erinnerst du dich an den Dichter Novalis? Er liebte mit religiöser Inbrunst – als das Mädchen starb, wollte er ihr ins Totenreich folgen. Und dann blieb er am Leben, vergaß sie und verliebte sich in ein anderes Mädchen. Er zog die richtige Konsequenz …

MATROSE: … indem er folgerte, dass er keine Menschen, sondern durch die Menschen hindurch etwas Göttliches liebt. Und so fand er Sinn in der Absurdität der Endlichkeit seiner Verliebtheiten. Aber er betrog sich selbst. Natürlich war er nur in einen Menschen verliebt und nach diesem in einen anderen und nicht in etwas Göttliches. Er musste sehr verzweifelt gewesen sein, wenn er so etwas glaubte.

WURM: Und, bist du’s auch?

Jahwe – ein Incel? (Hesekiel 26)

„Mädchen gaben ihre Zuneigung, Liebe und Sex anderen Männern, aber nie mir.“

Elliot Oliver Robertson Rodger, Amokläufer von Isla Vista 2014


Es gibt unattraktive Männer, die ihre Schwierigkeiten, was Sex und Liebe betrifft, nicht sich selbst oder dem Schicksal zur Last legen, sondern den Frauen, bei denen sie nicht ankommen. Es handelt sich also um arme Schweine, die gleichzeitig Arschlöcher sind. Denn dass auch der stärkste Wunsch kein Anrecht auf das Gewünschte gibt, ist eine Wahrheit, die Menschen aller Intelligenzstufen bekannt ist. Wer sie leugnet, tut es wider besseres Wissen.

„Frauen, die mich nicht wollen, verdienen zu sterben!“ – Äußerte jemand in der vordigitalen Zeit eine solche Meinung, riskierte er, zurechtgewiesen und ausgegrenzt zu werden. Darin bestärkt wurde er nur, wenn ihm ein anderes Arschloch derselben Kategorie gegenübersaß, was wenig wahrscheinlich war.

Heute ist das anders. Wer abseitige Ansichten vertritt, kann sie im Internet unter Gleichgesinnten äußern und sich als Vertreter einer Mehrheit fühlen. Und er kann sich dort ein Etikett abholen und es mit Stolz auf die Innenseite seiner Stirn kleben: Er ist jetzt kein Nichts mehr, sondern ein „Incel“. Läßt er seinen Worten Taten folgen und erschießt ein paar der Frauen oder Mädchen, die bösartig genug waren, ihn unattraktiv zu finden, wird er zum Helden und kann damit rechnen, dass weitere Helden seinem Beispiel folgen.

Im sechsten Jahrhundert vor Christus gab es noch kein Internet. Ein Incel in jener Zeit musste sich geschlossen halten. Es sei denn, er war Gott.

Gott sprach selten mit seinem eigenen Mund, als „Stimme vom Himmel“. Gewöhnlich bediente er sich des Mundes von Propheten. Für sein Outing als Incel benutzte er den Propheten Hesekiel, der eigentlich Ezechiel hieß, und der ihn – wie wir sehen werden – nicht richtig verstand oder verstehen wollte. In Hesekiel 23 erzählt Jahwe ihm seine Geschichte, die Geschichte einer gescheiterten Doppelehe*:

Ez 23,2 [...] Es waren einst zwei Frauen, Töchter der gleichen Mutter.
Ez 23,3 Sie trieben Unzucht in Ägypten, schon in ihrer Jugend trieben sie Unzucht; dort griff man nach ihren Brüsten, dort streichelte man ihre jugendliche Brust.
Ez 23,4 Die ältere hieß Ohola, ihre Schwester Oholiba. Sie wurden meine Frauen und gebaren Söhne und Töchter. [...]

Dass es Jahwe als Ehegatten an Attraktivität mangelt, ist schon jetzt überdeutlich. In einer Zeit, in der Jungfrauen das bräutliche Ideal sind und Kinderehen mehr Regel als Ausnahme – wer gibt sich da zufrieden mit Frauen, die jenseits ihrer Jugend sind, und ausserdem sexuell erfahren? Denn dass die Ägypter über die Brüste nicht hinausgekommen sind, ist unwahrscheinlich. – Auch die Namen deuten auf eine Herkunft aus der Halbwelt. Seriöse Frauen in der Bibel heißen Sarah oder Miriam, aber nicht Ohola und Oholiba. – Dass Geld geflossen ist (etwa an die Mutter des Etablissements), kann man vermuten.

Die Ehe geht denn auch – trotz der erzeugten Nachkommen – schief. Die beiden Halbweltschwestern betrügen Jahwe, nicht nur einmal, sondern mehrfach und in aller Öffentlichkeit. Charakteristisch ist der Hinweis auf das gute Aussehen der Liebhaber:

Ez 23,5 Ohola wurde mir untreu. Sie hatte Verlangen nach ihren Liebhabern, den kriegerischen Assyrern,
Ez 23,6 den in Purpur gekleideten Statthaltern und Herren; alle waren begehrenswerte junge Männer, Reiter hoch zu Ross.

Oholiba folgt dem Beispiel ihrer Schwester. Folgende Verse setzen dem Leser ein weiteres Licht auf:

Ez 23,14 Doch Oholiba ging noch weiter in ihrem unzüchtigen Treiben: Sie sah mit Mennig gemalte Wandzeichnungen chaldäischer Männer,
Ez 23,15 die um die Hüften einen Lendenschurz und auf dem Kopf einen herabhängenden Kopfbund trugen. Alle sahen aus wie Helden, wie Babylonier.

Jeder kennt Menschen, die der Schönheit ihres Gesichtes misstrauen und es daher ablehnen, fotografiert zu werden. Oholiba hat es offensichtlich satt, ihr Bett mit einem Hässlichen zu teilen, der unter eben diesem Komplex leidet („Du sollst dir kein Bildnis machen“). Sie zieht die Babylonier vor, die selbst auf einer Mennigezeichnung noch eine gute Figur machen und physische Tugenden besitzen wie die Ägypter aus ihrer Teenagerzeit, Tugenden, die ihrem Ehemann Jahwe offenbar abgehen:

Ez 23,20 Und es erwachte in ihr die Gier nach ihren Liebhabern, deren Glieder wie die Glieder der Esel und deren Erguss wie der Erguss der Hengste waren.

Jahwes Experiment mit den Frauen endet also im Fiasko, was ihn zum Frauenfeind aus Unattraktivität werden läßt – zum Incel. Wie alle Incels ergeht er sich in Rachephantasien, stellt sich in blutrünstigen Details vor, wie die Schwestern von ihren ausländischen Liebhabern umgebracht werden (was nicht passiert, denn sie sind am Ende des Kapitels noch am Leben), und ruft schließlich sein Sprachrohr Hesekiel dazu auf, eine Volksversammlung zu organisieren:

Ez 23, 47 Die Volksversammlung soll sie steinigen und mit Schwertern in Stücke hauen. Ihre Söhne und Töchter soll man töten und ihre Häuser verbrennen.

Doch wir müssen uns um Ohola und Oholibaba keine Sorgen machen – der Prophet weigerte sich einfach, Gottes Geschichte als das zu nehmen, was sie war, nämlich das traurige Hassgeschwätz eines Arschlochs. Er entschied sich stattdessen für eine allegorische Deutung:

Ez 23,4 [...] Der Name Ohola meint Samaria, Oholiba Jerusalem.

Und Jahwe, dem plötzlich klargeworden war, dass er sich nicht in einer Incel-Chatgruppe, sondern in Gesellschaft eines frommen Mannes befand, widersprach Hesekiel nicht. Seine Frauenfeindlichkeit sollte er allerdings nie wieder los werden. – Unterdessen ist er verstorben und ruht mit seinen engsten Angehörigen auf dem Waldfriedhof Gerresheim, in Düsseldorf (siehe Foto).


* Bibeleinheitsübersetzung von 1980, zitiert nach https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/ez23.html