Eine bekannte Krankheit heißt bei den Medizinern „grippaler Infekt“. Wie das jetzt im Vordergrund stehende Corona wird sie durch Tröpfchen in der Atemluft übertragen. Ein durchschnittlicher Deutscher erlebte – erlitt – ein oder zwei dieser Infekte pro Jahr, bevor die Maskenpflicht die Krankheit aus dem Alltagsleben weitgehend entfernte.
Bei manchen Leuten – ich gehöre dazu – beginnt ein grippaler Infekt mit einer Euphorie, die ein oder zwei Tage anhält, während derer die körperlichen Symptome anwachsen. Es handelt sich um eine sehr reizvolle Euphorie, sie hat etwas von der Stimmung, in die man verfällt, wenn man z. B. mit Blick auf einen Sonnenuntergang am Mittelmeer und „Wuthering Heights“ von Kate Bush im Ohr an einem Rotweinglas nippt. Oder ich fühle mich so, als wäre ich nach zwei Jahren Heimweh auf einem düsteren Planeten endlich nach Hause zurückgekehrt, dankbar und mit Tränen in den Augen. – Die Welt ist wieder schön!
Natürlich hat diese Stimmung keine andere Ursache als einen leicht übertriebenen Output von Glückshormonen / körpereigenen Opiaten, mit denen das Gehirn auf die Virusinfektion reagiert. Zweifellos ein Mechanismus, der dafür sorgen soll, dass ein erkrankter Mensch vor lauter physischem Ungemach nicht völlig auf den Hund kommt und ihm ein gewisser Grad an seelischer Verteidigungsfähigkeit gegen andere Gefahren erhalten bleibt. Vielleicht wirkt ein glücklicher Kranker auch sympathischer als ein nur jammernder, was es ihm erleichtert, seine Mitmenschen um Hilfe zu bitten, die einem schleimtriefenden Huster und Nießer sonst vielleicht eher aus dem Weg gehen würden.
Ist meine Euphorie – wenn man ihre Herkunft betrachtet – also beileibe nichts Wunderbares, sondern eine Illusion? Sollte ein vernünftiger Mensch ihr gegenüber Distanz wahren und sich selbst den Zeigefinger vor’s Gesicht halten: Achtung, die Welt ist gar nicht so schön, wie sie dir jetzt vorkommt, dein Gehirn betrügt dich?
Wer jetzt in der Versuchung ist, mit „Ja“ zu antworten, sollte sich überlegen, wie er nach dieser Antwort z. B. die Liebe einer Mutter zu ihrem Säugling beurteilen müsste. Auch hier ist das Gefühl nämlich Folge einer bestimmten Gehirnautomatik, deren evolutive Funktion darin besteht, den im Säugling verkörperten Kopien der eigenen Gene die Fortexistenz zu sichern. – Wer sich besser auskennt mit dem aktuellen Stand des Neodarwinismus als ich, würde diese Aussage vielleicht modifizieren oder ergänzen, aber was auch immer die natürliche Sachlage ist: Das, was sich hinter den Kulissen der Liebe einer Mutter befindet, ist selber weder Liebe, noch schön, noch auch nur sinnvoll. Die Evolution des Lebens ist selbst ein zufälliges Produkt der frühen Erdgeschichte, und sie vollzieht sich bis zum heutigen Tag in Zufällen (Mutationen). Ein Lebewesen steht – von diesem Standpunkt aus betrachtet – auf keiner höheren „Sinnstufe“ als ein Felsbrocken in der Wüste.
Gefühle, Werte, Sinn aller Art existieren nur für höhere Lebewesen und basieren ausschließlich auf biologischen und letztendlich physikalischen Vorgängen, die als solche mit Gefühlen, Werten und Sinn nicht das geringste zu tun haben. – Das darf nicht so verstanden werden, als wäre aller Sinn „eigentlich“ sinnlos oder illusorisch. Ein Gefühl ist ein Gefühl, völlig gleichgültig, was hinter den Kulissen ist, denn wir als fühlende „Seelen“ haben unseren Platz nicht hinter den Kulissen, sondern davor.
Letztere Einsicht hat eine Konsequenz, die betont werden muss: Nie darf man eine seelische oder geistige Erscheinung dadurch zu entwerten versuchen, indem man auf ihre biologische Bedingtheit verweist. Denn alle seelischen Erscheinungen sind gleichermaßen biologisch bedingt, haben als Hintergrund das sinnlose Getriebe eines durch Evolution hervorgetriebenen Molekülaggregats. – Nehmen wir als Beispiel die Mystik, das Bedürfnis nach Vereinigung mit einem anderen, meist göttlichen Wesen oder dem (quasi-göttlichen) Universum. Diese Vereinigung, wenn sie subjektiv erreicht wird, vollzieht sich nicht für längere Zeit, sondern in Momenten.
1970 veröffentlichte die Rockgruppe The Who einen Song – „Bargain“ [=vorteilhafter Handel, Schnäppchen] – dessen Bedeutung nach späterer Auskunft des Komponisten (Pete Townshend) religiös ist. Er enthält Strophenverse wie die folgenden:
„I’d gladly lose me to find you
I’d gladly give up all I got
To catch you I’m gonna run and never stopI’d pay any price just to win you
Surrender my good life for bad“
Der Refrain lautet:
„I’d call that a bargain –
the best I ever had“
In einer „Bridge“ gegen Ende des Songs macht der Ich-Erzähler explizt, welches Ziel am Ende des Rennens stehen soll – was mit dem sehr hohen (aber relativ winzigen) Preis erworben wird:
„I know I’m worth nothing without you
In life one and one don’t make two
One and one make one
And I’m looking for that free ride to me
I’m looking for you“
Als der Song herauskam, hörte man ihn als romantisches Liebeslied. Der (von Pete Townshend zweifellos beabsichtigte) Witz ist, dass beide Interpretationen mit dem Text verträglich sind. Das „lyrische Ich“ sieht den Sinn seines Lebens darin, die Vereinigung mit einem Wesen herbeizuführen. Nach dem einen Verständnis ist dieses Wesen ein Gott („der“ Gott) und nach dem anderen eine irdische Frau. Für diesen Sinn beabsichtigt das lyrische Ich, alles andere zu opfern, ohne dass es dabei seiner Erwartung nach zu einem wirklichen Verlust kommen kann.
Die religiöse Lesart mag ein wenig abgehoben erscheinen – ich denke, dass kaum ein Hörer darauf gekommen ist – , jedoch In der zweiten hat das Lied einen klaren und wohlbekannten Bezug auf die Wirklichkeit: die romantische Liebe, vulgo Verliebtheit. Das psychologische Standard-Buch über dieses Thema ist von Dorothy Tennov und entstand in den 70ger Jahren. Die Autorin stellt überzeugend heraus, dass Liebe als Verliebtheit sich von allen anderen Erscheinungen des menschlichen Lebens, die man als „Liebe“ bezeichnet, so sehr unterscheidet, dass sie ein eigenes Wort verdient (das von ihr geprägte „Limerence„). Sie betont, dass es bei einer Verliebtheit primär nicht um das Erlangen von Sex oder das Herbeiführen einer stabilen Beziehung geht:
„The goal of limerence is not possession, but a kind of merging, a „oneness“, the ecstatic bliss of mutual reciprocation.“
Trotz der Ähnlichkeit der Ziele werden die zwei Arten der Mystik, nach denen der Songtext ausgelegt werden kann, mystische Gottsuche und romantische Liebe, traditionell nicht als gleichwertig betrachtet. Das mystische Verlangen, das sich auf das Göttliche ausrichtet, ist eine todernste, intellektuell ehrenwerte Sache. Große Philosophen von Plotin bis Wittgenstein haben davon gesprochen. Limerenzen dagegen – sie sind eine Angelegenheit der populären Muse. Liebeslieder in der Art von „Bargain“ (in der erotischen Interpretation) hört man zur Unterhaltung, kaum jemand hält sie für ernsthafte Vorschläge zur Sinngebung des Lebens.
Warum diese unterschiedliche Bewertung? Zum einen könnte man hier die bekannte Tatsache anführen, dass Verliebtheiten enden und Paare auseinandergehen. Romantische Liebe ist sterbliche Liebe, ein vorübergehendes Phänomen, das vielleicht kurzfristig überaus wichtig erscheint, über das man im Nachhinein aber vielleicht lacht. – Wo es dagegen um Gott geht, geht es um das Ewige und um einen Gegenstand, der über die Jahrtausende hinweg von sehr vielen Menschen begehrt oder gesucht wurde.
Ein weiterer Einwand gegen die Bedeutsamkeit der romantischen Liebe ist (und da sind wir wieder beim Thema dieses Blogs), dass Liebe „letztendlich“ immer etwas mit Sexualität zu tun hat und daher ganz offenkundig auf die evolutionär erworbenen Verhaltensmechanismen zur Arterhaltung verweist. – Der Lebenssinn, der sich demjenigen öffnet, der wie in „Bargain“ fühlt (und damit eine Frau und nicht Gott meint) ist nicht nur zeitweilig, er hat auch in Sexualhormonen und bekannten Reiz-Reaktions-Mustern einen banalen und wenig großartig erscheinenden Hintergrund.
Ich halte diese Einwände für nicht gerechtfertigt. Der Ausdruck „Sinn des Lebens“ hat kein objektives Korrelat – der Sinn des Lebens ist das, was einem Menschen gerade als Sinn des Lebens erscheint und nichts anderes. Dass der Sinn daher wechseln kann – nun, das ist so selbstverständlich, wie es selbstverständlich ist, dass der Blick auf die Welt wechseln kann, wenn ein Mensch z. B. aus einer Depression wieder auftaucht, oder – umgekehrt – in sie hineingleitet. Man sieht die Welt unrettbar düster oder man sieht sie als neutrale oder (wie ich in meiner grippalen Euphorie) schöne Welt – keine dieser Blickweisen läßt sich objektiv begründen und kann daher als richtig oder falsch bezeichnet werden.
Und was die Biologie betrifft – dazu wurde alles Wesentliche in diesem Blog schon gesagt: Natürlich hat der temporäre Lebenssinn des Verliebten einen biologischen Hintergrund. Der Lebenssinn des religiös-philosophischen Mystikers hat ihn allerdings genauso, obwohl er weniger auf der Hand liegt, einfach, weil jedes menschliche Verhalten, Denken und Empfinden ihn hat. – Immer gibt es den Bereich hinter den Kulissen. Interessieren muss er uns nicht, denn unser aller Platz ist davor.
Ich möchte noch hinzufügen, dass ein wesentlicher Vorteil auf Seiten des Liebesmystikers liegt: Der Gegenstand, auf den er sich bezieht, existiert im Regelfall wirklich, was für das Göttliche fraglich erscheint. (Im Regelfall heißt: Es sind – gerade heutzutage – Fälle denkbar wie der von E.T.A. Hoffmann im „Sandmann“ ausgemalte: Dass sich ein Mensch in einen Roboter verliebt, weil er ihn für einen Menschen hält.)