Barcelona, oder: Gaudi und die Stunksitzung

„Zum ersten Mal, seit ich nach Barcelona gekommen war, sah ich mir die Kathedrale an. Es war eine moderne Kathedrale, aber gleichzeitig eines der häßlichsten Gebäude der Welt. […] Ich bin der Ansicht, daß die Anarchisten schlechten Geschmack bewiesen, als sie die Kirche nicht in die Luft sprengten, solange sie die Gelegenheit hatten, obwohl sie ein rot-schwarzes Banner zwischen die Türme hängten.“

George Orwell, „Mein Katalonien“

Wir flogen Ende Dezember 2019 nach Barcelona, als Corona zwar schon sein Vermehrungsgeschäft betrieb (das einzige Geschäft, das Viren – in Ermangelung eines Stoffwechsels – betreiben können), die Welt aber noch nichts davon wußte. Geimpft waren wir dennoch, nämlich mit Berichten über eine mörderische Kleinkriminalität („Barcelona -Stadt der Diebe“) und diversen guten Ratschlägen, wie man ihr nicht zum Opfer fällt, was uns dazu brachte, in jedem Passanten, der einen gewissen Mindestabstand zu unseren in Parks und Strassen flanierenden Figuren unterschritt, einen Pickpocket zu vermuten. – Tatsächlich geschah uns nichts Böses. Weder wurden wir beklaut, noch betrogen, noch bemerkten wir Diebstähle oder Verdächtiges in unserer Umgebung. Barcelona mutete so sicher an wie Düsseldorf, von wo aus wir aufgebrochen waren. Und die Erkältungssymptome, die mich zwei Tage lang nervten, durfte ich in aller Unschuld für Symptome einer Erkältung halten. – Es war eine schöne Zeit.

Wir hatten gutes Wetter, was für Barcelona im Januar keine Selbstverständlichkeit ist, und auf den Straßen und vor den typisch spanischen Balkongittern verblassten in der Wintersonne die Zeichen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, Fahne und gelbe Schleife. – Wie Düsseldorf wird auch Barcelona von kreischenden grünen Sittichen bewohnt, im Parc de la Ciutadella sitzen sie auf den Rasenflächen in der Nähe von Plastiksonnenbrillen feilbietenden Afrikanern und haben wenig Scheu. – Wenn keine Saison ist, eignet sich die Stadt für Spaziergänge und einen Strand gibt es auch. Wir hielten uns einen Tag dort auf und ich las meiner Reisebegleiterin im Angesicht des Meeres aus Carmen Laforets Roman „Nada“ vor, der in Barcelona spielt. – Ich kann dieses Buch sehr empfehlen. – Carlos Ruiz Zavons „Der Schatten des Windes“ , das wir danach lasen und das auch in Barcelona spielt, sollte man vermeiden.

Wer vorhat, aus touristischen Gründen nach Barcelona zu fahren, sollte vorher überprüfen, ob er die Architektur Antoni Gaudis mag. Sie ist das Sehenswürdigste in dieser Stadt, und wer beim Anblick von Fotos der „Sagrada Familia“ ähnliche Empfindungen hat, wie sie den Spanienkämpfer George Orwell anfielen, würde besser woanders hinfahren. – Gaudis Kunst zählt zum Jugendstil und greift in spätere Epochen aus, ihre wichtigsten Beispiele sind neben genannter Monsterkirche (die übrigens nicht die „Kathedrale“ von Barcelona ist, eine solche – gotisch – gibt es auch noch) ein Gartenpark und einige Häuser. „Casa Milà“ , auch als „La Pedrera“ bezeichnet, ist das eindrucksvollste, es sieht aus, als würde es von Außerirdischen bewohnt, während die „Sagrada Familia“ mit ihrem durch Glasfenster mit Buntlicht durchflutetem Inneren ein Geschmäckle nach christlichem Kitsch hat. – Antoni Gaudi war nämlich nicht nur ein künstlerischer Visionär, sondern auch ein kirchenfrommer Katholik – so fromm, dass der Heilige Stuhl jetzt seine Seligsprechung betreibt.

Bekanntlich blickt Spanien auf ein berüchtigtes katholisches Mittelalter zurück, mit Großinquisitoren und Judenvertreibungen (und der entsprechenden Sexualmoral). Ein bisschen Luft davon konnten wir atmen, als wir am letzten Tag zum Montserrat fuhren. Dieser Berg erhebt sich als geologische Kuriosität etwa 40 Kilometer von der Stadt entfernt aus einer welligen Ebene, man kann mit der S-Bahn von der Placa d’Espagna bis zu seinen Fuß fahren und sich von Zahnradbahnen in die Höhe gondeln lassen. Seit dem 11. Jahrhundert lebten dort Mönche in Klöstern und Einsiedeleien. Während man auf dem Dach von Gaudis „La Pedrera“ unwillkürlich damit rechnet, dass hinter den Schornsteinen die Aliens von Tralfamador lauern, erwartet man auf den Bergpfaden des Montserrat, dass man hinter einer nebligen Biegung auf Ritter zu Pferde stößt, mit spanischen Eisenhüten auf den Köpfen, oder auf murmelnde Kuttenmönche, die im Kreis um einen rauchenden Scheiterhaufen stehen … der Berg ist sehr romantisch. Wir sammelten wilden Thymian.

Das Mittelalter wirkte in Spanien noch lange nach, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielte die Kirche das Gegenteil einer sozial fortschrittlichen Rolle, indem sie konsequent die Interessen von Adel, Großgrundbesitz und Fabrikherren verfocht. Das muss man als Barcelona-Besucher wissen, wenn man etwa bei der Führung durch Santa Maria del Mar auf die verrusste Decke hingewiesen wird, die daran erinnert, dass dieses Glanzstück katalanischer Gotik 1936 durch Feuer zum Einsturz gebracht werden sollte – das Feuer brannte tagelang, wurde aber mit den Qualitäten der mittelalterlichen Bausubstanz nicht fertig. „Welche Barbaren zerstören denn im 20. Jahrhundert eine mittelalterliche Basilika?“ fragt sich der naive Tourist. – Nun, für die anarchistischen Arbeiter, die in Barcelona die Gotteshäuser brennen ließen, handelte es sich nicht – wie für uns – um „Baudenkmäler“ aus einer toten, romantischen Zeit, sondern um Symbole einer noch ganz lebendigen, finsteren Macht, die zusammen mit den faschistischen Militärs ihre Knechtung bezweckte, bzw. verlängern wollte. – In demselben Sinne, in dem auch die umstrittenen Statuen der konföderierten Generäle in den Südstaaten der USA noch nicht einfach Denkmäler eines vergangenen Krieges sind …

Während anderswo in Europa die radikalen Arbeiter den Ideen Karl Marx‘ folgten, gehörten sie in Spanien 1936 mehrheitlich der anarchistischen Bewegung an. Sympathisch am Anarchismus ist das Freiwilligkeitsprinzip und die Feindschaft gegenüber allen Hierarchien. Beides sorgte dafür, dass er in den deutschen wilden Jahren nach 68 mehr Reiz für die aufmüpfige Jugend hatte, als der streng hierarchische und preussische Pflichttugenden schätzende Kommunismus. „Keine Macht für niemand!“ sang Rio Reiser, hätte er „Alle Macht der Partei!“ gesungen, wäre kein Oberschüler auf die Idee gekommen, den Songtitel an alle Wände zu sprühen.

Anarchisten sind relativ wenig gefährlich: Sie würden niemals einen totalitären Zwangsstaat errichten, erstens weil er das Gegenteil ihrer Prinzipien verkörpert und zweitens, weil sie mit ihren Prinzipien überhaupt nichts errichten können. Für die revolutionäre Praxis ist es nämlich hinderlich, wenn jeder kommen und gehen kann, wann er will, und man Führung bestenfalls provisorisch akzeptiert, wenn überhaupt. – Aus diesem Grunde gerieten die spanischen Anarchisten im Bürgerkrieg dann auch sehr schnell ins Hintertreffen gegenüber ihren kommunistischen Mitstreitern, die immerhin in der Lage waren, den Krieg gegen Franco professionell zu führen, auch wenn sie ihn am Ende verloren.

Den Bildausschnitt fand ich in einem Zeitungsblatt von 1936, das ich an unserem letzten Abend an einem Flohmarktstand auf der Placa de Catalunya erstand. Er zeigt einen Milizionär aus der „Kolonne Durruti“. – Durruti war ein anarchistischer Führer, spielte zu Beginn des Krieges eine prominente Rolle als Kriegsheld und erschoss sich später aus Versehen (wirklich aus Versehen) mit seinem eigenen Gewehr, was einem Kommunisten nicht passiert wäre. – Worauf es mir hier ankommt, ist aber nicht Durruti, sondern die Mütze des dünnbeinigen Rauchers, der (freiwillig) unter seinem Befehl stand. Man erkennt, dass sie nicht einheitlich gefärbt ist: Die linke Hälfte muss man sich rot vorstellen und die rechte schwarz: Rot und Schwarz sind die anarchistischen Farben. Auf Fahnen werden sie diagonal abgeteilt – wie auf dem Logo der Kölner Stunksitzung, das in Remineszenz an die deutsche „Anarcho-Szene“ entworfen wurde und somit tatsächlich auf das rot-schwarze Banner verweist, das von den Anarchisten 1936 u. a. zwischen die Türme der „Sagrada Familia“ gehängt wurde. Nachdem man auf ihre Sprengung aus ideologischen oder Geschmacksgründen verzichtet hatte. – Antoni Gaudi erlebte den revolutionären Karneval in Barcelona übrigens nicht mehr, er war 1926 unter eine Straßenbahn geraten. Weil der berühmte Künstler eine schäbige Jacke trug, hatte man ihn für einen armen Mann gehalten und medizinisch nicht versorgt. Der für seinen Kirchenbau zuständige Geistliche, ein Freund Gaudis, wurde von den Anarchisten erschlagen. – Die nicht im Krieg gefallenen Anarchisten wiederum verschollen in den Foltergefängnissen Francos, wenn nicht schon in denen ihrer kommunistischen „Freunde“, und die „Sagrada Familia“ ist immer noch nicht fertiggebaut.