Die Folgen des Wahnsinns sind gute Bücher: Thomas Melle

„If you’re a plumber [Klempner] who enjoys science fiction, you might well consider a novel about a plumber aboard a starship or on an alien planet.“

Stephen King, „On Writing“, S. 185 (Kindle)


Stephen King empfiehlt Autoren, in das Geschriebene einfliessen zu lassen, was man persönlich kennt. Thomas Melle folgt diesem trivialen Rat, doch er schreibt nicht über seinen Beruf, seine Hobbys oder seine Reiseerfahrungen (und auch nicht über Hinterwäldler in Maine). Das, was Melle so gut kennt, dass es seine Bücher regelrecht ausfüllt, ist vor allen Dingen nichts, was er aus eigenem Wunsch kennenlernte – nämlich der Wahnsinn und seine Folgen, ein zerstörter Ruf, Ausgrenzung und Armut.

Thomas Melle wurde 1975 in Bonn geboren, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie, zuletzt in Berlin, und fing an zu schreiben. Ein früher Roman wurde nicht gedruckt, Übersetzungen und Theaterprojekte hatten mehr Erfolg. – 1999 drehte er durch, erlitt die erste „manische“ Phase einer bipolaren Störung, die sich im folgenden Jahr wieder verflüchtigte und – für diese Krankheit charakteristisch – einer Depression Platz machte, letzere später einer zeitweiligen Normalisierung des psychischen Zustandes. Zwei weitere, immer längere Phasen und die obligatorischen Abstürze folgten, bis er sich 2010 mittellos in den Trümmern seiner Existenz wiederfand. – Seither widersteht er offenbar der fatalen Versuchung, die Psychopharmaka abzusetzen, wenn es ihm zu gut geht.

Bis zur Lektüre von Melles „Die Welt im Rücken“ – das Buch, in dem er seine Krankheitsgeschichte erzählt – ich komme gleich dazu – hatte ich ein völlig falsches Bild von Bipolarität oder „manisch-depressivem Irresein“, wie die ältere Bezeichnung lautet. Ich stellte mir das Leben eines Manisch-Depressiven als Wechsel zwischen krankhaft hoch- und krankhaft niedriggestimmten Zeiten vor. Doch die Manie ist keine – sozusagen unbegründete und unverdiente – euphorische Phase, in der man vielleicht aus übergroßem Optimismus zuviel Geld ausgibt und unüberlegte Entscheidungen trifft, sie ist etwas ganz anderes:

Vergleichbar ist sie mit der akuten Psychose eines Schizophrenen, geht mit Paranoia, Größenwahn und äußerst abseitigen, für die Mitmenschen nicht immer ungefährlichen und jedenfalls lästigen Verhaltensweisen einher. Angenehm ist sie für den Betroffenen keineswegs, stattdessen steht der Maniker unter der Wirkung diffuser Ängste und eines ständigen Getriebensein, ganz abgesehen von den Katastrophen, in die er sich regelmäßig verwickelt.

Melle verarbeitet seine Bipolarität in – bis jetzt – vier Büchern. Eines ist ein Band mit Erzählungen, den ich nicht gelesen habe. Zwei sind Romane, das dritte, zuletzt (2016) erschienene stellt einen Versuch dar, sich von der Thematik, die ihm seine Gehirnchemie aufgezwungen hat, freizuschreiben, indem er sie gerade nicht mehr mit den Mitteln der Kunst angeht, sondern sachlich, oder vielleicht besser: ehrlich. – Es ist das erste Werk des Schriftstellers, das ich las, so dass ich bei der späteren Lektüre der Romane in etwa darüber orientiert war, was der autobiographische Hintergrund des Erzählten ist.

„Die Welt im Rücken“

Ich schätze dieses Buch sehr, aber welcher Gattung gehört es eigentlich an? Autobiographie, naheliegenderweise. Aber es ist eine spezielle Autobiographie, die nicht das ganze Leben ihres Autors behandelt, sondern in dem ein bestimmter Aspekt der Lebensgeschichte, ein „Lebensthema“ im Vordergrund steht.

Ereignisse oder Erlebnisse werden nur geschildert, insofern sie einen Bezug zu diesem zentralen Aspekt haben, ansonsten bleiben sie aussen vor oder werden lediglich kurz resumiert. Direkt vergleichbar ist „John Barleycorn“ von Jack London, in dem der Autor des „Seewolf“ seine Lebensgeschichte im Hinblick auf die Tatsache, die Hintergründe und die Auswirkungen seines Trinkens erzählt (ohne beispielsweise die Beziehungen zu seinen Frauen näher zu beleuchten), und das daher keine Autobiographie, sondern viel eher eine Alkoholikerautobiographie ist. – Melles Buch könnte man eine Bipolarenautobiographie nennen.

Teilweise ist es auch deutlich mehr als eine Autobiographie. Lange Passagen reflektieren – vorzüglich, wie ich meine – über Themen wie das Verhältnis des Wahnsinnigen zur Gesellschaft oder über das des Erkrankten zur Medizin und zur Psychiatrie:

„Diese Neuronen haben also zu stark gefeuert, […]. Mit der tatsächlichen Erfahrung der Krankheit haben solche Ersatzerklärungen aber in etwa so viel zu tun wie die Funktionsbeschreibungen eines Bremssystems mit der Tatsache einer Mehrfachkarambolage.“

S. 16 (Kindle)


Wo Melle seinen Wahnsinn, die Gedanken und Gefühle während der manischen Phasen schildert, ist der Leser von der Präzision beeindruckt, mit der er es tut. – Etwa im nachfolgenden Satz über die initiale Entfaltung des paranoiden Denksystems (in dessen fertiger Ausprägung Melle als Messias fungiert, den die Menschen als solchen schon seit Jahrhunderten kennen, auch wenn sie es nicht direkt aussprechen):

„Denn schon verfängt sich der Blick in einem Detail, schon wird der Himmel zur diffusen Bedrohung. […], und so zimmert sich das Denken schnell, Gedanke für falschen Gedanken, ein Gerüst zusammen, das den Gefühlsüberschuss kurzfristig erklärbar macht.“

S. 43f (Kindle)


Ich sollte ergänzen, dass das Buch nicht nur interessant und intelligent ist. Es ist auch unterhaltsam. Melles Erlebnisse und Taten in den langen Monaten der Manie haben häufig komische Züge, selbst wenn man den tragischen Kontext nicht vergißt. Es wird viel Alkohol getrunken, Berliner Nachtleben und allerhand Prominenz spielt mit und gelegentlich, sehr gelegentlich, ertappt man sich als Leser, dass man den Hang des Manikers, jedem noch so bescheuerten Impuls zu folgen, mit einer Art Freiheit verwechselt und ihn beneidet.

Nach eigenem Zeugnis war Melles Antrieb dafür, „Die Welt im Rücken“ zu schreiben, der Wunsch, sich „seine Geschichte“ zurückzuerobern – auch mit dem Ziel, sie endlich aus seinen Büchern zu vertreiben. Denn: „In meine Bücher ist es unauslöslich eingesickert. Sie handeln von nichts anderem …“ (S. 16) – Wie das gemeint ist, zeigt sich an den beiden Romanen, über die ich gleich reden werde.

Ach ja, eins habe ich noch vergessen: Melle ist, obwohl vieles, was er schildert, traurig ist und man als Leser mit ihm fühlt, frei von Selbstmitleid. Und er entgeht der Versuchung, seine Krankheit zu idealisieren, etwa wegen der mir vorher nicht bekannten Tatsache, dass gebildete und künstlerisch tätige Menschen häufiger an bipolaren Störungen leiden als der scheinbar einfacher gestrickte Rest der Menschheit. – Im nachfolgend behandelten „Sickster“ gelang ihm das noch nicht.

„Sickster“

Der Roman – sein Titel dürfte den Modeausdruck „Hipster“ verballhornen – ist um zwei Männer in ihren 30gern herumkonstruiert, die zunächst nur durch gegensätzliche Lebensentwürfe und schließlich auch um dieselbe Frau konkurrieren.

Thorsten arbeitet als Manager in der Berliner Firmenzentrale eines Mineralölkonzerns, hat aber mit Öl selbst wenig zu tun: Er ist für die Firmenpolitik gegenüber den deutschen Tankstellenpächtern und den zu den Tankstellen gehörigen Shops verantwortlich. Thorsten ist glücklicher Besitzer des Aussehens von Brad Pitt, hochintelligent, verfügt über einen enormen Sexualtrieb und säuft, nicht nur in seiner Freizeit, sondern selbst in der Firma. – Liiert ist er mit einer Frau namens Laura, die sich schließlich zwischen den Protagonisten wiederfinden wird.

Magnus, der einst dasselbe Bonner Internat wie Thorsten besuchte, ist etwas jünger und kein Erfolgstyp, sondern ein „Mann des Geistes“. Zum Zeitpunkt der Handlung schlägt er sich als verkrachter Dichter oder Drehbuchschreiber damit durch, in Thorstens Abteilung an einer motivierenden Gratiszeitung für die Pächter mitzuschreiben, betätigt sich also – wie er selbst meint – als „Worthure“ für das Kapital. Wie ein Hollywood-Star sieht er auch nicht aus, eher etwas „verwachsen“. – Nun zur Handlung.

Nach einer ziemlich ausgiebigen Schilderung von Magnus‘ Vorleben in Bonn (bedeutsam eine langjährige, unerfüllte Verliebtheit) setzt die Kernhandlung ein, die Ende der 90ger Jahre in Berlin spielt. Thorsten trifft auf den in der Firma neu beschäftigten Magnus und fühlt sich (leicht) von seiner Gegenwart beunruhigt: Als wäre Magnus sein schlechtes Gewissen, kann man ergänzen. Sein Gefühl, Magnus irgendwoher zu kennen, klärt sich in der Folge auf und im Berliner Nachtleben trifft man sich privat wieder, findet sich – trotz des Gegensatzes – nicht ganz unsympathisch und säuft die Reserve-Flachmänner aus, die Thorsten in der Jacke trägt.

Laura, Thorstens hochsensible und literarisch begabte Frau, findet in einer furios gestalteten Szene heraus, dass ihr Mann eine Affaire hat. Da sie nicht fähig ist, sich von ihm zu lösen, rutscht sie in eine Krise, die sie mit Tagebuchschreiben und Autoaggression bekämpft. – Schließlich beginnt sie, sich so auffällig zu verhalten, dass es zu ihrer Einweisung in die psychiatrische Abteilung der Charité kommt.

An diesem Ort stößt sie auf – Magnus. Der ist nämlich inzwischen ebenfalls durchgedreht, hat, wie man sich denken kann, eine manische Phase durchlebt, die im Roman auf zahlreichen Seiten ausführlich geschildert wird. – Sie freundet sich mit ihm an; Thorsten – dessen Alkoholkonsum immer mehr außer Kontrolle gerät und ihm den Job kosten wird – besucht seine Frau in der Charité und findet dort auch Magnus.

*

„Sickster“ wurde mit Unterbrechungen über Jahre hinweg und teilweise in der akuten Manie geschrieben. Die Distanz des Autors zu seinem Wiedergänger Magnus ist entsprechend gering. Die Autobiographie beider stimmt in weiten Teilen überein, auch wenn Magnus einen Film machen will und nicht an einem Roman schreibt. Prägnante Ereignisse aus Melles wirklichen Manien werden in Variation übernommen. Und der Autor kann es nicht lassen, seine Figur wenigstens ansatzweise zu idealisieren, inbesondere am Schluss des Buches, wo der halb stabilisierte Magnus die Rolle des Aufrührers aus „Einer flog übers Kuckucksnest“ übernimmt und daneben noch den Schlag gegen das kapitalistische System führt, den er sich sein ganzes Leben lang erträumt hat.

Vom künstlerischen Standpunkt aus gesehen, ruiniert dieser Schluss das Buch. Der Humor ist seicht, die ganze Passage wirkt angeleimt, als wäre Melle vom Verlag unter Druck gesetzt worden, die Sache – bitte! – endlich und nach Möglichkeit heiter abzuschließen. – Die literarische Tiefe, die man weiten Strecken des Buches nicht absprechen kann (besonders zu erwähnen die langen Zitate aus den Tagebüchern Lauras), hebt sich plötzlich und das Buch versandet auf einem flachen Strand in Ballermann-Nähe.

Man möge das nicht so verstehen, als hielte ich „Sickster“ deshalb für einen schlechten Roman. Romane müssen, anders als etwa Gedichte oder Novellen, keine schlüssigen Kunstwerke sein. Günter Grass „Blechtrommel“ oder die „Flegeljahre“ Jean Pauls erfüllen den Anspruch nicht.

„3000 Euro“

Liest man den Roman nach „Sickster“, zweifelt man zu Beginn, ob beide Bücher vom selben Autor geschrieben wurden. Melle erzählt in sozialrealistischer Manier – manchmal denkt man bei den kurzen Sätzen, die er jetzt vorzieht, er habe sich an Fallada orientiert – die Geschichte einer in statu nascendi gescheiterten Liebesaffaire zwischen zwei armen Leuten in einer anonymen Großstadt.

Denise ist alleinerziehende Mutter einer – eventuell – nicht ganz richtigen, jedenfalls problematischen Sechsjährigen, der sie verzweifelt versucht, bei Ämtern einen Behindertenstatus zu verschaffen. Sie ist amphetaminabhängig aus einer nicht näher erläuterten Vergangenheit in der Technoszene, arbeitet an einer Supermarktkasse und fürchtet sich ständig davor (manchmal mit Grund), von Kunden als Darstellerin in einem Pornofilm erkannt zu werden, an dem sie aus Geldnot mitgewirkt hat.

Der bipolare Anton lebt in einem Obdachlosenwohnheim, überschuldet und depressiv, seit ihn – eine manische Phase ereilt hat. Ein Gerichtstermin steht bevor, bei dem es um 3.000 Euro geht, die er nicht bezahlen muss, falls der Richter seine Geschäftsunfähigkeit zum Zeitpunkt der Vertragsschließung akzeptiert. Die Summe stellt nur einen Teil seiner Schulden dar, für Anton hat der Prozess aber eine symbolische Bedeutung: Gewinnt er ihn, gewinnt er auch die Zuversicht, wieder auf die Füße zu kommen und eine Privatinsolvenz in Angriff zu nehmen.

„3000 Euro“ handelt nicht, wie „Sickster“, vom Wahnsinn in unterschiedlicher Gestalt. Anton ist in der Zeit der Romanhandlung gar nicht mehr verrückt, er ist „nur“ arm und verzweifelt. Die Bipolarität spielt kaum eine Rolle, Melle hätte sie durch eine andere Ursache der Überschuldung ersetzen können, ohne größeren Schaden für den Roman. Auch die Drogenabhängigkeit von Denise ist für die Figur nicht entscheidend, Denise ist intelligent, tüchtig und sogar engagiert, wo es um ihr Kind geht.

Melle hält in diesem nach seiner letzten Manie geschriebenen Roman eine weit größere Distanz zu der Gestalt, die seiner Person entspricht, als in „Sickster“. Natürlich verarbeitet er seine Lebensgegenwart, nämlich die nüchtern-desillusionierte Zeit nach der letzten manischen Phase, deren Probleme er am Schluß von „Die Welt im Rücken“ andeutet. Dennoch sind die Ähnlichkeiten begrenzt.

Anton fehlt – obwohl er eine Art Künstler ist – die intellektuelle Abgehobenheit Magnus‘. Idealisiert wird er nicht im mindesten. – Und im Unterschied zu „Sickster“ ist „3000 Euro“ ein schlüssiges Kunstwerk. Die letztendliche Katastrophe erscheint als logische Konsequenz dessen, was der Roman über die beiden Protagonisten erzählt hat, ihre Nöte, aber auch ihre charakterlichen Schwächen (die, wie gesagt, nichts mit Krankheit zu tun haben). Eine „poetische“ und dennoch tieftraurige Schlußszene gelingt Melle, ohne dass sie aufgesetzt wirkt.

Wie in „Sickster“ erwähnt Melle übrigens auch in „3000 Euro“ eine harmlosere Art des Irreseins, die romantische Verliebtheit. Dass er auch hier über etwas schreibt, was er persönlich kennt, schließe ich aus folgendem Satz, in dem erklärt wird, wie Anton es einmal geschafft hat, die romantische Liebe – wenn auch nur kurz – zu realisieren:

„Es war okay gewesen, denn er hatte seine wilden Vereinigungs- und Selbstauflösungsphantasien im Griff und spürte dennoch etwas von der Art der Liebe, die er suchte.“ Pos. 1085

Pos. 1085 (Kindle)


Die für Limerenz Anfälligen unter den Lesern wissen, über welche Schwierigkeiten Melle spricht. (Die anderen wissen – vielleicht – etwas Wesentliches nicht.)

Persönlich ziehe ich (wegen der Details) den durchwachsenen „Sickster“ vor. – Objektiv ist Melle jedoch in der Verarbeitung seiner Lebensgeschichte einen großen Schritt vorwärts gekommen. Stephen King erläutert:

„Write what you like, then imbue [durchfärben] it with life and make it unique by blending in your own personal knowledge (…)“

S. 185 (Kindle)


Wichtig ist hier, dass mit „what you like“ etwas gemeint ist, nämlich die eigene kreative Annäherung an ein literarisches Genre, was zunächst unabhängig vom persönlichen Wissen des Autors ist. Die Konstruktion des Beziehungsromans „3000 Euro“ weist diese Art Unabhängigkeit auf und Melles Erfahrungen färben das Ganze lediglich, ohne es zu dominieren. – In „Sickster“ überwuchert das Autobiographische den Rest.

Zum Abschluss eine Frage: Wie wären Melles Bücher geworden, wäre er nicht durchgeknallt und verarmt und seine Lebenserfahrung – das, was er „weiß“ – hätte sich z. B. aus der Lektüre neostrukturalistischer Philosophen und der Teilnahme an Literatur- und Partyszene gespeist? – So leidvoll sich das frühere Leben des bipolaren Thomas Melle darstellt, für den Schriftsteller bot es Gelegenheit, seinen Büchern Bedeutung zu geben.

Ein Gedanke zu “Die Folgen des Wahnsinns sind gute Bücher: Thomas Melle

  1. Die Figuren in Sickster heißen ja tatsächlich Magnus, Thorsten und Laura oO ich dachte das wäre ein Scherz!!!

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