Morgen oder übermorgen ist Krieg in Europa – so sieht es jedenfalls aus. Mehr als 150.000 russische Soldaten wurden an den Grenzen der Ukraine in Stellung gebracht. Die NATO und die amerikanische Regierung rechnen mit einem Großangriff, dessen Ziel Kiew sei, d. h. die Eroberung des ganzen Landes.
Im vergangenen Jahr veröffentlichte Putin eine Art Denkschrift, in der er behauptet, dass die Ukrainer eigentlich immer Russen gewesen wären. Um das zu begründen, geht er bis auf die Sklavenjägerkolonien der Wikinger (der „Rus“) zurück, die sich später zu Russland entwickelten. – Die Ukrainer, oder jedenfalls der größte Teil derselben, teilen seine Meinung nicht. Sie wollen keineswegs zu Russland, sondern in die NATO. Putins Haltung diesem Wunsch gegenüber lässt sich mit den Worten „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein“ ausdrücken.
Historisch sehr bewusst, orientiert sich Putin auch beim Schädeleinschlagen an geschichtlichen Vorbildern. Ein tief eingewurzelter moralischer Instinkt verbietet es, jemanden anzugreifen, der nicht einem selbst oder wenigstens einem guten Freund zuvor etwas getan hat. Es muss aussehen, als ob der andere angefangen hätte – so gehört es sich. Selbst Julius Cäsar und Cortez bemühten sich um Vorwände für ihre Raubkriege.
Es war dabei niemals von Bedeutung, ob die Vorwände glaubwürdig waren. Ich denke, noch nicht einmal die Mehrheit der Deutschen glaubte 1939, dass Polen den Krieg begonnen hätte. Ebenso dürfte kaum ein Russe an das Märchen glauben, dass die Ukrainer gerade jetzt daran gehen, die üblicherweise als „selbsternannte Volksrepubliken“ bezeichneten und unter russischem Schutz stehenden Gebilde in der Ostukraine zu invasionieren. Natürlich will die ukrainische Armee nicht von drei Seiten in den Dobass eindringen und bis zur russischen Grenze durchmarschieren. Und natürlich ist kein ukrainischer Saboteur in einer Kläranlage erwischt worden, als er Chlorgasbehälter sprengen wollte, um Menschen und Umwelt zu vergiften.
Manche Lügen wollen gar nicht gelaubt werden. Ihre Funktion ist nicht die Täuschung, sondern die Demütigung der Zuhörer: Schau, ich bin so mächtig und ihr seid mir so egal, dass ich euch auch diesen Scheiß erzählen kann. Ein Spiel, dass die Nazis genauso gut beherrschten wie die Stalinisten. – Unter den Lügen Putins und seiner Propagandamaschine verbirgt sich also eine Botschaft. Sie lautet: „Willkommen zurück im 20. Jahrhundert.“ – Ich hoffe, der Albtraum, der jetzt beginnt, endet schnell oder bleibt – vielleicht – doch noch ungeträumt.
Bild aufgenommen in Mostar, Bosnien
Walter Imlenz 