Träume sind real!

dsc_0001_1Ein Hund, der im Schlaf mit den Beinen zuckt, dann geweckt wird und desorientiert ist, hat wahrscheinlich geträumt. Mit Sicherheit aber hat er keine Meinung darüber, was mit ihm geschehen ist. Er wird sich kurz wundern, wo das Kaninchen hin ist, das er gerade noch verfolgt hat, und dann wird die Angelegenheit aus seinem Kopf verschwinden, spurlos. – Menschen dagegen haben Meinungen über ihre Träume, und sie reden darüber. Sie werden das schon sehr früh getan haben.

Stellen wir uns ein Rudel klischierte Steinzeitmenschen vor, auf einem mehrtägigen Jagdausflug, nicht in der Tundra sondern in der Savanne, also ohne Mammute. Eines Morgens erwacht einer der Jäger am glimmenden Lagerfeuer, reibt sich den Saharastaub aus den Augen und sagt:

„Ich stand noch eben auf dem Hügel dahinten. Auf der anderen Seite grasen Antilopen!“

Ein Genosse, der schon länger wach ist, wirft einen Blick auf die ferne Silhouette des Hügels und antwortet:

„Du lügst! Du hast die ganze Zeit hier gelegen, ich habe dich gesehen.“

Er könnte auch, ganz ernsthaft, sagen:

„OK, dann ist wohl deine Seele auf den Hügel geflogen. Wir sollten auf die Beine kommen, vielleicht erwischen wir die Herde noch.“

Aber wäre nicht noch eine dritte Antwort möglich? Nämlich die Antwort, die wir heute geben würden und Kindern vielleicht tatsächlich geben:

„Du glaubst  nur, auf dem Hügel gewesen zu sein. In Wahrheit hast du geschlafen. Dein Erlebnis war nur geträumt, eine Illusion!“

Ich denke, dass Menschen, sobald sie sprechen konnten, über die Möglichkeit des Lügens orientiert waren. Auch einfache Sinnestäuschungen dürfte ihnen geläufig gewesen sein. Doch der Gedanke, dass detailliert erinnerte Ereignisse vielleicht gar nicht stattgefunden haben, dass es so etwas wie Halluzinationen  gibt, ist anspruchsvoller als diese Konzepte – weniger naheliegend als die Annahme, dass Menschen als Geist ihren schlafenden Körper verlassen, woran sie sich beim Aufwachen erinnern. Was kann denn glaubwürdiger sein als Erinnerungen?

Es muss also eine Zeit in der Menschheitsentwicklung gegeben haben, in der man Träume für bare Münze nahm, und zwar vernünftigerweise. – Stellen wir uns nun vor, dass zeitgleich mit dem erwähnten Träumer ein dritter Jäger erwacht. Er hört von den Antilopen und sagt:

„Das kann nicht stimmen. Ich bin dir doch gerade begegnet, du warst nicht auf dem Hügel, wir hockten beide unten am Wasserloch und rannten weg, als das Krokodil auftauchte.“

Träume unterschiedlicher Menschen können sich widersprechen. Müssten die Steinzeitjäger nicht spätestens aus dieser Tatsache ableiten, dass es möglich ist, dass etwas nicht geschehen ist, obwohl  man sich genau daran erinnert?

Sicher würden sie viel eher annehmen (wenn sie sich nicht gegenseitig für Lügner halten), dass beide  Traumerzählungen von realen Geschehnissen handeln, dass aber eine der Traumfiguren – nämlich der erste Träumer im Traum des zweiten – nicht er selbst war, sondern ein Fake:

Offenbar hat ein weiterer Träumer, oder vielleicht auch ein Wesen ohne Körper (denn wenn Menschen unsichtbar ihre Körper verlassen können, liegt die Existenz von Geschöpfen nahe, die gar keinen Körper haben) sich verstellt und so getan, als wäre er ein anderer, vermutlich in böser Absicht. Verkleidung  könnte eine Idee sein, mit der die Steinzeitler vertraut sind – setzt sich nicht der Schamane einen Hirschkopf auf und tut so, als wäre er ein Hirsch, wenn er den Jagdzauber ausführt?

Ich gebe zu: Auch in der Steinzeit kann man die Realität von Träumen nur retten, wenn man eine Reihe Zusatzannahmen macht, etwa an Geister und parallele Wirklichkeiten glaubt. Aber sind diese Zusatzannahmen für einen naiven Menschen unwahrscheinlicher als Erinnerungen, denen gar nichts  in der Wirklichkeit entspricht? – Wenn sich in der Jagdgesellschaft ein Skeptiker befindet, steht er auf keinem guten Posten.

„Wenn ich nicht wirklich auf dem Hügel war, wie kann ich mich dann daran erinnern?“

würde man ihn fragen.

„Na, du hast es dir halt ausgedacht.“

„Du willst also sagen, dass ich lüge?“ (der Sprecher nimmt die Keule in die Hand).

„Nein, das nicht – ich meine, du hast es dir ausgedacht, aber du weißt es nicht.“

„Das ist doch völliger Unsinn, wenn ich mir die Antilopen ausgedacht hätte, müsste ich mich daran erinnern, dass ich sie mir ausgedacht habe. Ich erinnere mich aber an die Antilopen!“

Man beachte, dass die Theorie des Träumers mit der Keule noch im Mittelalter durchaus gängig war, nämlich als Auffassung der Kirche, dass geträumter Geschlechtsverkehr realer Verkehr mit einem attraktiv maskierten Dämon, einem Incubus oder Succubus sei. – Die Theorie des Skeptikers wurde später bekanntlich von Sigmund Freud popularisiert. Dazwischen lag die Annahme, dass Träume zwar ausgedacht sind, aber nicht vom Träumer selbst – sie werden ihm von Göttern und anderen höheren Wesen untergeschoben, die damit in verschwurbelter Weise etwas mitteilen.

Beim Bewusstseinsphilosophen Daniel Dennett (in „Consciousness Explained“, 1991) fand ich übrigens eine recht interessante Hypothese, wie es dem Gehirn gelingt, eine scheinbar sinnvolle Traumhandlung zu entwickeln, ohne dass es eine Instanz gibt, die sich die Handlung ausdenkt. – Leider ist sie zu kompliziert, um sie hier zu schildern.

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