Ketose, erster Teil

Als ich hörte, dass ein jüngerer Kollege eine Low-Carb-Diät praktiziert und dabei sechs Kilogramm verloren hatte, las ich nach und dachte: Das könnte ich mal probieren. – Warum? – Nun, zum einen wegen meines Bauches, der obszön  ist im Sartreschen Sinne (ja, diesen Franzosen habe ich im letzten Beitrag schon erwähnt), da er, wenn ich mich handelnd bewege, an dieser Bewegung nur passiv beteiligt ist, sich in seinem Schwabbeln somit als reines Fleisch präsentiert und nicht als körperlicher Ausdruck eines freien Subjekts. – Die Tatsache, dass nicht alles, was obszön ist, auch sexy ist, erklärt die Wahl irgendeiner Diät, aber noch nicht die Wahl dieser  Diät:

Denn die Anpreisungen der Low-Carb-Diät stehen logisch nicht auf festeren Füßen als die Anpreisungen anderer, entgegengesetzter Methoden. – Es geht darum, den Stoffwechsel in den Zustand der Ketose  zu versetzen, gemeint ist ein Modus, in dem der Körper verzehrtes Fett unmittelbar verwerten kann. Die aus dem Fett gewonnenen Stoffe ersetzen die Kohlenhydrate in ihrer Funktion als Energiespender, denn deren Zufuhr unterbindet man so weit als möglich. Die Ketose ist eine Art Notfallsystem, das der an Zuckerstoffwechsel gewöhnte Körper nicht gerne und nicht schnell  (siehe unten) einschaltet, über das er jedoch immerhin verfügt und das, wenn es einmal läuft, in der Regel eine Gewichtsreduktion zur Folge hat – aus nicht ganz klaren Gründen.

Ebenfalls nicht ganz klar ist, ob die Sache gesund ist und wie „normal“ Ketose in der menschlichen Geschichte bzw. -vorgeschichte war. – Die Verfechter berufen sich gerne auf die traditionellen Eskimos, die auf ihren Eisfeldern keine Kartoffeln anbauten und als reine Fisch- und Fleischesser ständig in Ketose gewesen wären. – Der englischsprachige Wikipediaartikel zum Thema bestreitet das glaubwürdig, abgesehen davon meine ich mich zu erinnern, dass zum Klischeebild eines Eskimos nicht nur die Knochenharpune, sondern auch eine gewisse Korpulenz gehört.

Und wie unsere Steinzeitvorfahren sich ernährten, ist nicht nur äußerst spekulativ, sondern könnte uns Twenty-First-Century-Humans schon deshalb nicht als Vorbild dienen, weil wir aller Wahrscheinlichkeit nach viel älter werden als jene. Eine Sitte, die für uns gefährlich ist, weil man irgendwann nach dem vierzigsten Lebensjahr davon Krebs bekommt, ist völlig harmlos, wenn sie von Eiszeitjägern praktiziert wird, die aus ganz anderen Gründen kaum älter als zwanzig werden, und Ernährungsformen, die von unserem Standpunkt aus gesund sind, könnten für etwaige Zukunftsmenschen, die eine Lebenserwartung von 150 jugendlichen Jahren haben, fatal sein, z. B. weil sie nach dem hundertsten Lebensjahr zu kreisförmigem Haarausfall führen.

Warum entschied ich mich dennoch für eine Ketosediät? – Natürlich spielte Willensschwäche eine Rolle, da man (zunächst bzw. idealerweise) nicht zur Kalorienreduktion gezwungen ist, aber das war nicht der wesentliche Punkt. – Was mich faszinierte, war die Ketose als solche:  Wenn es möglich ist, den Stoffwechsel in so radikaler Weise umzustellen, will ich das einfach mal erlebt haben. Wie wirkt es sich aus auf mein psychisches und körperliches Befinden, was sagen meine Zipperlein dazu (denn ich bin fünfzig und habe einige)? Beeinflusst es mein Denken? – Es gibt so vieles, was ich nicht mehr erfahren werde in meinem Leben, z. B. wie es ist, Menschenfleisch zu essen oder eine Fledermaus zu sein, doch was Ketose ist, das kann ich noch erleben!

Die Ketosediät tritt in diversen Variationen auf, die sich vornehmlich im Grad an Strenge, was den Umgang mit Kohlehydraten betrifft, unterscheiden, nämlich als Low-Carb-, Atkins-, Paläo- oder Anaboldiät (es gibt es noch weitere). – Ich entschied mich für die radikale und einfache Fassung, die nur verlangt, dass man weniger als fünfzig Gramm Kohlenhydrate am Tag zu sich nimmt. – Was nicht ganz leicht umzusetzen ist, da nicht nur Nudeln, Kartoffeln usw, sondern auch Dinge vermieden werden müssen, die ein viel besseres Prestige haben, wie z. B. Obst oder Hülsenfrüchte. Und in einer Flasche Bier schwimmen zwischen den Alkoholgeistern 15 Gramm Kohlenhydrate, die den Trinker zwar nicht erheitern, aber „aus der Ketose werfen“ können.

Da ich anfangs nicht genau kontrollierte und über Panaden und Soßen (und Bierchen) noch viel zu viele Kohlenhydrate aufnahm, geriet ich zwar nicht in Ketose, wohl aber in einen Übergangszustand, der als „Ketose-Grippe“ bezeichnet wird und der sich durch ein erkältungsähnliches Krankheitsgefühl, allgemeine Schlappheit, ein eingeschränktes Gesichtsfeld und Kopfdruck auszeichnet. Das war alles etwa so, wie es auch beschrieben wird und dauerte bei mir ca. 3 Tage. Der Tag, an dem es mir am schlechtesten ging, war glücklicherweise ein Samstag – denn wegen der Nebenwirkungen eines mutwillig unternommenen Diätexperimentes kann man, wenn man kein Arschloch ist, nicht krankfeiern.

In der Woche danach (letzte Woche, um genau zu sein) ging es wieder aufwärts, ich liess die Vorhölle des Zuckermangels hinter mir und erreichte sie, die Ketose, jedenfalls verfärbten sich die durch den Urinstrahl geschwenkten Teststreifen. – Ich bin noch immer darin, und möchte auflisten, was mir wiederfährt und nicht wiederfährt:

1. Ich kann bestätigen, dass man leichter aus dem Bett kommt: Man wird wach und, hopp, steht man auf. – Und es stimmt, dass man weniger Schlaflust und intensivere Träume hat, deren Interessantheitsgrad allerdings größer sein könnte (siehe Punkt 4).

2. Seit dem Erreichen der Ketose scheine ich an Gewicht zu verlieren (die Waage macht Andeutungen, die in diese Richtung gehen, es ist aber zu früh, um Gewissheit zu haben).

3. Meine Laune ist etwas besser als durchschnittlich, was vielleicht  auf die Ketose zurückzuführen ist, vielleicht aber auch auf den mit Rosenflügeln heranflatternden Frühling. – Musik empfinde ich stärker.

4. Eine  Wirkung der Ketose kann ich bestätigen, die in den Diätanpreisungen selten, in den Foren aber häufig erwähnt wird, und sich darin äußert, dass ein Phänomen, das Englischsprecher „morning wood“ nennen, seltener auftritt.

5. Ich kann nicht  bestätigen, dass man klarer im Kopf ist. Das Gehirn scheint in der Ketose aber bestimmte Denkleistungen vorzuziehen: Die Arbeit (ich programmiere) fällt mir leichter, das Bloggen (evt: das Kreativsein) fällt mir schwerer – ich bitte den Leser dieses Beitrags, das zu berücksichtigen.