Der Wecker von Rotenburg

„Wecker“ – mit dem harten Konsonanten im Zentrum klingt das angemessen lärmig und andererseits wegen der zwei gleichen und noch dazu grautönigen Vokale unpassend trocken, wenn man die existentielle Bedeutung (das wird unten erläutert) dieses Spezialfalls einer Uhr in Erwägung zieht. – „Henker“ ist, was die Trockenheit betrifft, ein ähnlicher Fall: Seltsam kurz und sachlich ist das Wort, wie das Geräusch des Fallbeils, wenn es Richtung Erdmittelpunkt durch die Halswirbel schnellt. – Diese Ähnlichkeit auf der lautlichen Ebene impliziert nicht, dass zwischen den bezeichneten Dingen eine Wesensverwandtschaft besteht.

Im Gegenteil, wir finden mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten: Ein leistungsfähiger Wecker macht uns schlagartig wach, während die Aktion eines befähigten Henkers unsere Vigilanz ebenso schlagartig auf Null reduziert, eine Absenkung, die keine Weckuhr mehr rückgängig machen kann, auch wenn sie, wie auf Pink Floyds „The Dark Side of the Moon“, im Rudel auftritt. Des weiteren gilt, dass, wenn ein Henker uns henkt, er die Macht dazu nicht von uns bekommen hat (sondern z. B. von Robespierre oder dem Islamischen Staat). – Es sei denn, wir praktizieren mit ihm im Einverständnis ein seltenes perverses Ritual, wie vor einigen Jahren der Kannibale von Rotenburg und sein freiwilliges Opfer.

Der Wecker dagegen ist ohne unseren Eigenanteil ein pures Nichts, was Macht betrifft, er ist, wie der Existenzphilosoph Sartre konstatierte, nur durch unsere freie Entscheidung mächtig. Wir verliehen ihm höchstpersönlich die Lizenz zum Krawallmachen, und können uns über ihn nicht beim Zeitgott und Vater-Kastrierer Kronos oder dem nach Ansicht Slavoj Žižeks der Kastration bedürftigen Weltkapitalismus beschweren, nur bei uns selbst, denn wir sind seine Käufer und Benutzer. – Wir füttern ihn mit Energie, wie es unsere Eltern vor uns taten, wenn auch nicht mehr durch Drehen einer Flügelmutter, sondern durch Einlegen von Batterien, Laden des Akkus oder seine ständige Verbindung mit dem Stromnetz, aus dem er sich selbst bedient, wenn wir vor Elektrosmog im Schlafzimmer keine Angst haben. Und wie bei unseren Eltern erbricht er einen Teil der Energie allmorgendlich in der Form von Geräusch.

Selbstverständlich hassen wir dieses Geräusch, gleichgültig, ob es archaisch von einem Klöppel erzeugt wird, der auf zwei eiserne Halbkugeln trommelt, oder ob es sich um eine sanft anschwellende, ätherisch in Hall getauchte elektronische Fuge handelt: Der Fortschritt in der Klangschönheit ist nur kosmetischer Natur. Wir hassen es, weil wir mit ganzer Seele schlafen wollen – das hält uns aber nicht davon ab, den Wecker mit ein paar routiniert ausgeführten Bewegungen verstummen und einige Minuten darauf erneut laut werden zu lassen. Das Spiel kann fortgesetzt werden, es wird fortgesetzt – seine äußerste Grenze ist nur das Gemecker der Person, mit der man das Bett teilt.

Das Phänomen ist weitverbreitet und sollte uns zu denken geben: Wir scheinen zum Wecker ein ähnliches Verhältnis zu haben wie das Opfer des Kannibalen von Rotenburg zu seinem Mörder (oder besser: Töter, denn die moralische Sachlage ist uneindeutig): Wir lassen unsere Nachtruhe willig ermorden. Womit nicht nur gemeint sein soll, dass wir den Wecker – wie oben erwähnt – dazu ermächtigt haben (was eine Sache von höchster Normalität ist, die uns tägliche Teilhabe an der Leistungsgesellschaft ermöglicht). – Nein, Perversion ist im Spiel: Wir geniessen den Mord, auch wenn wir nicht dazu stehen wollen, weder vor unserem Gewissen noch vor der empörten Bettgenossin. – Es muss so sein, denn wenn es nicht so wäre, würden wir beim ersten Klingeln aus dem Bett steigen.