Meine Erfahrung mit Albträumen

Digital StillCamera„Ich träumte von bunten Blumen,
So wie sie wohl blühen im Mai;
Ich träumte von grünen Wiesen,
Von lustigem Vogelgeschrei.“

So heißt es in einem der Lieder aus Schuberts „Winterreise“ – die Realität nach dem Erwachen war dann gar nicht frühlingshaft, sondern „kalt und finster, es schrien die Raben vom Dach“. – Offenbar gönnte sich der einsame romantische Wanderer einen Wunschtraum, das kommt vor, obwohl es – wie man heute weiß – mehr unangenehme als schöne Träume gibt.

Zumindest ist das die Lehrmeinung, denn ich könnte mir gut vorstellen, dass der Anteil an Wunschträumen etwas mit der Komfortabilität des Wachseins zu tun hat: Wer seinen Tag frierend und / oder hungrig mittelalterlicher Feldarbeit opferte, hatte danach vielleicht ganz andere und glückseligere Träume als die Leute von heute, deren Trauminhalte von Psychologen oder Schlafforschern notiert werden. Die Albtraumlastigkeit unserer Nächte ist vielleicht der Preis für den Fortschritt, der dafür gesorgt hat, dass wir im Vergleich zu unseren von Mangel, Krieg und Schmerzen geplagten Vorfahren recht wunschlos vor uns hinleben.

Ich möchte in diesem Beitrag von meinen Albträumen erzählen, was nicht bedeutet, dass ich mehr davon habe oder hatte als gewöhnliche Leute. Für einen Blogeintrag sind sie einfach geeigneter, u. a. weil die sonstigen  entweder nicht jugendfrei sind oder todlangweilige Urlaubsidyllen, die nur Spaß machen, solange man sie träumt.

Das Wort „Albtraum“ hat bekanntlich etwas mit Elfen, also übersinnlichen Wesen zu tun, es spielt damit eigentlich auf eine bestimmte Art von Traum an, die heute als „halluzinatorische Schlaflähmung“ oder „Old-Hag-Phenomenon“ bekannt ist: Der Träumer fühlt sich völlig wach, kann sich aber nicht rühren, und in seiner Nähe oder gar auf seiner Brust oder sonstwie in Tuchfühlung mit ihm befindet sich ein unheimliches, gesichtsloses Monstrum – volkstümlich der „Alb“ oder „Nachtmahr“ – das als äußerst angsterregend empfunden wird. Träume dieser Art sind von wirklichem Erleben kaum zu unterscheiden, meine Mitbewohnerin – die einen durchmachen musste – bestätigt mir das. – Ich persönlich kenne die Erscheinung nicht. Ich bin nicht traurig darüber.

Mein Lieblingsphilosoph Wittgenstein schrieb einmal, dass Träume mindestens die Funktion haben, auf schlimmste Möglichkeiten vorzubereiten. Die meisten meiner Albträume lassen sich aus diesem Blickwinkel betrachten: Die geträumten Szenarien sind nicht (wie der Nachtmahr) völlig irreal, sondern Situationen, in die man als Mensch geraten kann, auch wenn die Wahrscheinlichkeit extrem gering ist:

  • Ich schreibe eine Klausur und weiß, dass alles, was ich schreibe, Unsinn ist und ich mein Abitur versaue. Ich war schon seit Jahren nicht mehr im Unterricht und jetzt, jetzt kommt es raus!
  • Ich bin in meinem Zimmer im Studentenwohnheim. Ich öffne einen Schrank, in einer Ecke finde ich vergessene und verfaulte Lebensmittel, Ungeziefer wimmelt darauf herum.
  • (Ähnlich: Ich halte ein Kleintier, habe mich lange nicht darum gekümmert, sehe in den Käfig und finde es tot und verwest.)
  • Ich habe jemanden ermordet (meist im Verbund mit anderen). Die Leiche könnte entdeckt werden, ich bin (anders als die anderen) in Panik!
  • Es ist 1939 oder 1914, in der Post ist mein Einberufungsbefehl – ich muss unmittelbar an die Front abfahren, ich schlottere vor Angst. Ich hätte irgendwas Bestimmtes tun müssen, um die Einberufung zu vermeiden. Ich habe es nicht getan, und jetzt ist es zu spät.

Diese Träume – die in Variationen von Zeit zu Zeit wiederkehren – sind wenig originell. Sie stehen offenbar sämtlich unter dem Leitmotiv eines vergangenen Handelns oder Unterlassens, das bösartige Folgen hat oder zu haben droht. Es sind also zweifellos schlimmste Möglichkeiten, die in ihnen vor Augen geführt und – sozusagen – trainiert werden. (Irgendwann bringe ich mal jemanden um und dann bin ich auf den Ärger mit der Leiche vorbereitet …)

Verwunderlich ist aber, dass andere und viel näher liegende Eventualitäten nie in meinen Träumen erscheinen, z. B. dass Angehörige sterben oder das Haus abbrennt oder mir eine Krebsdiagnose mitgeteilt wird. Warum nicht? Warum sind Möglichkeiten des Schuldigseins in meinen R.E.M.-Phasen so prominent vertreten und andere, wenigstens genauso gruselige Optionen viel weniger?

Zum Abschluss noch einen Albtraum von der irrationalen Sorte, den ich nur ein einziges Mal hatte, und der ein Plagiat  ist – was nicht meint, dass ich für diesen Blogbeitrag eine Traumerzählung geklaut habe. Nein, mein Unterbewusstes selbst hat den Traum gestohlen. – Er stieß mir zu, als ich im ersten oder zweiten Grundschuljahr war:

Ich sitze mit meiner Mutter am Küchentisch. Meiner Mutter fällt etwas herunter, ein Nähutensil, glaube ich, ich krieche unter den Tisch, um es aufzuheben und sehe, dass da bereits eine Hand ist, die nach dem Ding greift. Der Arm, an dem die Hand hängt, kommt aus der Wand. (Ich erwachte schreiend.)

Wer Rilkes „Malte Laurids Brigge“ gelesen hat, wird die Szene sofort wiedererkennen. (Wer den Roman nicht gelesen hat, sollte es vielleicht nachholen.) Bei Rilke ist das Erlebnis kein Traum, sondern eher eine Halluzination oder Vision und es gibt noch weitere Abweichungen (z. B. sitzt der Junge, der es erlebt, nicht neben seiner Mutter, sondern neben einer Erzieherin. Außerdem ist die Hand bei Rilke „ungewöhnlich mager“, während die Hand, die ich sah, schön war – der Arm steckte in meinem Traum übrigens in einer Art Rüstung, es war die Hand eines Erzengels).

Man wird mir glauben, dass ich als Grundschüler keine Werke Rilkes las (sondern Micky Maus und WAS-IST-DAS-Bände), das Buch war auch nie im Besitz meiner Eltern, ich habe das recherchiert. Mein Traum kann auch keine gefälschte Erinnerung sein, die etwa spontan entstand, als ich – mit ca. Anfang Zwanzig – den „Malte“ erstmals las. Denn dieser Traum war nicht irgendein Albtraum, den man zwischenzeitlich völlig vergißt, sondern es handelte sich um DEN  Albtraum meiner Kindheit. Er war mir zu allen Zeiten präsent.

Vor  meiner Rilke-Lektüre meinte ich übrigens durchaus zu wissen, woher das Motiv der „Hand aus der Wand“ stammt, nämlich zur Hälfte aus dem alten Testament (die „Menetekel„-Geschichte kannte ich aus dem Kindergottesdienst) und zur anderen Hälfte aus einer Darstellung in einem Bildband über die Indianer Nordamerikas – dort führten Schamanen eine Zeremonie aus, indem sie ihre Arme durch Löcher in einer Holzwand steckten.

Seit ich den „Malte“ kenne, nehme ich dagegen an (denn die Übereinstimmung ist einfach zu  groß), dass ich als Kind mit halbem Ohr oder vielleicht ganz ohne Bewusstsein eine Rilke-Lesung  im Radio mitbekam, denn das Radio lief ständig bei uns. – Dass ich der wiedergeborene  Dichter sein könnte, mich also selbst plagiert hätte, denke ich ausschließen zu können: Meine Studentenlyrik war zu lausig. (Sie ist es immer noch, denn ich habe sie nicht verbrannt.)